Lysistrata: Frauen gegen den Krieg
Was können Frauen tun, wenn Männer mal wieder Krieg führen wollen? Wie können „schwache“ Frauen die „starken“ Männer dazu bekommen, einen Krieg zu beenden? Eine planvolle, regelrechte Anti-Kriegs-Strategie der Frauen ist uns aus dem antiken Athen überliefert, genauer: aus der Komödie „Lysistrata“ des populären Schriftstellers Aristophanes. Augenzwinkernd krass in der Darstellung, aber ernst im Anliegen. Lysistrata erhitzte die Gemüter nicht nur vor zweieinhalb tausend Jahren, sondern bis in die Gegenwart der Bundesrepublik. Ihre Strategie: sexueller Generalstreik. Ihr Ziel: ein umfassender, nachhaltiger Friede für die griechische Welt.
Inhalsverzeichnis
Die antike Komödie Lysistrata
Die Situation: Ein Dauerkonflikt
Bei den jährlichen Festspielen wurde 411 v. Chr. in Athen die Komödie „Lysistrata“ aufgeführt. Ihr Thema: Frauen streiken gegen den Krieg. Das war im zwanzigsten(!) Jahr des Peloponnesischen Krieges. In ihm kämpfte die Großmacht Athen mit ihren Bundesgenossen gegen die Großmacht Sparta mit ihren Verbündeten um die Vorherrschaft in Griechenland. Vereinzelt gibt es Friedensverträge einzelner Bündnispartner. Aber selbst die halten nie lange. Besonders die beiden „Supermächte“ befinden sich faktisch durchweg im keineswegs „kalten“ Kriegszustand. Immer wieder zerschlägt sich die Hoffnung auf einen dauerhaften, umfassenden Frieden.
Die Strategie der Frauen
Das Theaterstück1 beginnt mit einer Anti-Kriegs-Agitation durch die Athenerin Lysistrata. Die Frauen, nicht nur in Athen, haben die Nase gestrichen voll vom Krieg. Lysistrata (zu deutsch: die „Heeresauflöserin“2) hat die Frauen aus den Ländern beider Kriegsbündnisse zusammengerufen. Aus Athen und Sparta, aber auch aus Böotien, Korinth und den anderen, kleineren griechischen Kommunen sind sie gekommen. Sie muss nicht sagen, was nach 20 Kriegsjahren jede*r weiß: dass der Krieg für alle nur Tod, Zerstörung und wirtschaftlichen Niedergang bringt.3 Lysistrata denkt, dass jetzt nur noch die Frauen das gesamte Griechenland retten können. Aber nicht jede für sich, sondern nur zusammen aus allen Kriegsparteien und Ländern.4 Ihr Hauptargument zielt auf ein gemeinsames und zugleich individuelles Interesse: Wenn Krieg ist, bleiben die Familienväter weg, und die Männer bleiben als Liebhaber aus.5 Und sie stellt ihren todsicheren Plan vor: Ehelicher (und unehelicher) Generalstreik der Frauen, bis die Männer mit dem Quatsch des Kriegmachens aufhören und Frieden schließen.
Es gibt – ganz demokratisch – eine Diskussion; überwiegend sind die Frauen anfangs über die bevorstehende Enthaltsamkeit alles andere als begeistert. Dieses Opfer scheint ihnen dann doch zu groß. Und sie zweifeln an der Frauenpower: Was können wir schwachen Frauen schon ausrichten? Aber Lysistrata argumentiert und überzeugt: mit solidarischer Bindung, mit dem Stolz, mit guten Beispielen. Und vor allem, sehr explizit, mit der so offensichtlichen Schwachstelle der Männer, ihrer Triebsteuerung.6 Zudem wirkt das Beispiel der Lampito aus der anderen Supermacht Sparta.7 Sie spricht zwar einen saukomischen Dialekt und ist durchtrainiert wie ein olympischer Faustkämpfer, aber sie stellt sich als erste entschieden hinter die Athenerin. Hin und her – am Ende sind sich alle Frauen einig. Sie schließen einen Pakt, der da lautet: sexuelle Totalverweigerung in allen Varianten bis zum Frieden. Der Schwur wird nicht mit dem dafür üblichen Schlachtopfer besiegelt, sondern mit einem riesigen Schlauch Wein. (Die athenischen Frauen galten damals in Griechenland als enorm trinkfest).
Der Kampf der Frauen gegen die Männer
Die Folgen sind absehbar. Es kommt zu Zusammenstößen mit den Herren der Schöpfung. Der Chor der alten Männer8 grummelt und brubbelt, man erwähnt seine Veteranenzeit aus der Schlacht von Marathon und noch früher.9
Die Frauen haben inzwischen die Athener Akropolis10 besetzt. Die Männer versuchen, den Festungshügel mit Brandfackeln zu stürmen. Aber der Chor der Frauen empfängt sie mit einer nass-kalten Dusche, die die Fackeln und den Kampfeswillen löscht. Nicht besser ergeht es anschließend den Herren des Senats (Politik war in Athen den Männern vorbehalten). Obwohl sie unter Polizeischutz anrücken, werden sie von den Frauen – welch Schande für die Patriarchen! – in Weiberkleider gesteckt und zurückgeschickt. Dem Chor der alten Männer bleibt nur Rückzugs-Gekeife.
Kampf gegen und mit der Versuchung
Dann aber droht größere Gefahr! Die Frauen halten es, so ganz ohne Männer, im selbstgewählten Zölibat auf dem Berg, nicht mehr aus. Sie versuchen, eine nach der anderen, sich unter Vorwänden zu verpieseln: Der Haushalt muss versorgt werden…, die Wäsche…, ich muss nur nochmal schnell… usw., all die weiblichen Pflichten halt.11 Eine Mitstreiterin täuscht gar eine Schwangerschaft vor – ausgerechnet mittels Helm unter der Kleidung. Lysistrata und ihre Kampfgenossinnen haben alle Hände voll zu tun. Schließlich greift sie zum Orakelspruch. Der hilft, die Reihen wieder zu schließen.12
Das Highlight der entstehenden Nöte, aber auch ausgeklügelter Verführungskunst, bildet die Szene zwischen Kinesias und Myrrhine. Er, fast blind vor Verlangen, deutlich nicht mehr kopf-, sondern unterleibsgesteuert, stolpert gleichsam Myrrhine hinterher, die ihn mit immer gewagteren Versprechungen und Verzögerungen bis zum äußersten aufreizt13 – um ihn dann schließlich mit erwartungsvoll geschlossenen Augen auf dem sorgsam hergerichteten Lager unverrichteter Dinge sitzen zu lassen. Auch Myrrhine kämpft dabei offensichtlich mit dem Begehren, weiß es aber um der Solidarität der Frauen willen zu beherrschen.
Ende gut
Damit scheint das Schlimmste überstanden. Die ersten Unterhändler kommen aus Sparta, wo Lampitos Aufruf offenbar Erfolg hatte und Einsicht bei den Kriegern erzeugt hat. Die von ihnen geschilderte Triebnot der Männer schafft Gemeinsamkeit mit den Athenern. Die Chöre der Frauen und Männer sinnieren gar über das Verhältnis der Geschlechter. Dann trifft auch die offizielle Gesandtschaft der spartanischen Regierung ein.
Lysistrata liest den Spartanern und Athenern (und dem Publikum) unverblümt die Leviten über den Unsinn des Krieges. Sie erinnert daran, wie oft sich beide Seiten gegenseitig erfolgreich beistanden, statt sich dumpf zu bekämpfen. Während allerdings Lysistrata politisch Klartext redet, tauschen sich die Männer frontübergreifend flach feixend über ihre weiblichen Reize aus. Schließlich ergreift Lysistrata die noch immer denkgehemmten Männer mittig, führt sie zusammen und stiftet mit Hilfe der Göttin der Versöhnung Frieden. Die Schluss-Szene erinnert an Asterix: üppiger Schmaus und Tanz – aber eben nicht für sich, sondern versöhnlich multikulti und in Paaren zusammen.
Lysistrata in ihrer Zeit
Theaterzuschauer waren damals in Athen vorwiegend männlich. Denn Athen war in bezug auf das öffentliche Leben radikal patriarchalisch.14 Aristophanes aber nimmt mit Lysistrata eindeutig Partei für das überlegene Handeln der Frauen gegen die Beschränktheit männlicher Handlungsmuster. Weil die Männer dazu augenscheinlich unfähig sind, übernehmen die Frauen die Verantwortung und führen die Lösung herbei. Seine politischen Argumentationen und Mahnungen zur Vernunft lässt Aristophanes ganz direkt Lysistrata in ihren Reden aussprechen. Die Männer kommen mit ihrer eher nahbereichsfokussierten Mentalität nicht gut weg. Von ihnen ist eigentlich kein einziger zusammenhängend vernünftiger Satz zu hören. Und auch der Chor der alten Männer – traditionell im antiken Schauspiel kluger Erklärer und Kommentator der Handlung15 – hat nichts Sinnhaftes zur Lage und zur Lösung beizutragen.
Der entscheidende Schritt zur Umsetzung der politischen Vernunft – Aufnahme des Dialogs durch eine Delegation – erfolgt vom Gegner Sparta. In Athen blühte der Argwohn oder das Vorurteil, dass in Sparta eher undurchschaubar irrationale, den Riten entsprungene Handlungsmotive herrschten, verbunden mit kultureller Rückständigkeit.16 Die Rückständigkeit drücke sich schon in deren komischem, fremd klingenden Dialekt aus. Dagegen wähnten sich die Athener durchweg selbst als Spitze des rationalen Denkens und der Weisheit.17
Lysistratas Wirkung im Theater
Trotz – oder auch wegen? – der zentralen Angriffe auf das männliche Ego sind die Zuschauer vermutlich vor Lachen von ihren Sitzen gerutscht. Dafür sorgten schon die Hauptrequisiten der Komödie, riesige Phallen aus Leder. Obligatorisch den männlichen Figuren leibesmittig vorgeschnallt, baumelten sie ihnen ziemlich unverhüllt mächtig vor den Bäuchen und kündeten von ihrer Primärsteuerung.18 Im antiken Theater wurden im übrigen generell alle Rollen von Männern dargestellt, also auch die der verschwörenden und verführenden Frauen.19 Erheiternd für das athenische Publikum dürfte auch der breite dorische „Dialekt“ der spartanischen Vertreter*innen einschließlich der Kampfgenossin Lampito gewesen sein.20 Aber es sind eben die Spartaner, die dann – entgegen aller herablassenden Vorurteile – die entscheidende Initiative zu Vernunft und Frieden ergreifen.
Aktualität: Lysistrata in der Bundesrepublik
Aristophanes war seinerzeit der beliebteste Komödien-Schreiber, populärer als etwa die Marx Brothers, Woody Allan und Monty Python zusammen zur Hoch-Zeit des Kinofilms. Aber er bekam nur höchstselten den ersten Preis bei den jährlichen Theaterfestspielen, obwohl seine Mitbewerber aus heutiger Sicht als belanglos bis unbekannt anzusehen sind. Oft musste er sogar mit Verunglimpfungen in der Volksversammlung oder gar gerichtlichen Klagen rechnen: Es gab immer zu viele wichtige Leute, die sich angegriffen fühlten und seine Stücke überhaupt nicht witzig fanden.
Und das war selbst noch 1960/1961 der Fall, also über 2 Jahrtausende nach Entstehung der Komödie.
Die umstrittene Fernseh-Aufführung
Damals schrieb Fritz Kortner eine aktualisierte Film-Fassung der Lysistrata für das Deutsche Fernsehen. Deren TV-Ausstrahlung wurde aber zunächst von mehreren CDU-geführten Bundesländern verhindert. Die Begründung ist bemerkenswert: Das Jahrtausende alte Stück verletze „das sittliche Empfinden der Bevölkerung“. 21 Ist das wirklich alles? Oder steht hinter der sittlichen Empörung noch etwas anderes?
Im TV-Film bedienen sich alle Darsteller einer durchweg jugendfreien Sprache. Man ist züchtig gekleidet, von Phallen ist selbstverständlich nichts zu sehen. Das antike Stück selbst wird im Film in einem Fernsehapparat abgespielt. In der Kortner’schen Rahmenhandlung sitzen davor vier Ehepaare samt der Hauptdarstellerin, die das Geschehen mit aktuellen Bezügen erörtern. Das allerdings betreiben vorherrschend hornbebrillte Männer. Die weibliche Hauptdarstellerin hat ihr Themenfeld eher im traditionell Weiblich-Emotionalen.
Schließlich, nach vielen Diskussionen und Bearbeitungen, wurde der Film dann doch in fast allen Dritten Programmen der ARD gesendet, vom Bayrischen Rundfunk (BR) jedoch standhaft nicht.22
Streit um Bewaffnung und Aufrüstung
Das Fernsehspiel thematisiert in seiner Rahmenhandlung auch ausdrücklich seinen aktuellen politischen Hintergrund. Dieser dürfte zum Streit um die Aufführung beigetragen haben. Gerade waren nämlich Bestrebungen der Regierung Adenauer bekannt geworden, die Bundesrepublik Deutschland gar mit Atomwaffen aufzurüsten. Nach dem verdrängt-traumatischen Ende des 2. Weltkriegs war zunächst noch nicht einmal daran zu denken gewesen, dass es überhaupt je wieder deutsche Soldaten geben könne. „Wer noch einmal eine Waffe in die Hand nimmt, dem soll die Hand abfallen“, lautete der berühmte Schwur von Franz Joseph Strauß.23
Die „Wiederbewaffnung“ der Bundesrepublik wurde in den Jahren vor 1955 zunächst, verborgen vor der Öffentlichkeit, in einem ominösen „Amt Blank“ betrieben.24 Erst 1955, gut 4 Jahre vor dem TV-Film Die Sendung der Lysistrata, war die Bundeswehr gegründet und die allgemeine Wehrpflicht wieder eingeführt worden. Damals ein hochsensibles Thema. Die Debatte um die „atomare Bewaffnung“ rief dann die erste große Anti-Kriegs-Bewegung in der jungen Bundesrepublik hervor.
Anti-Kriegs-Bewegung in den Folgejahren
1962, ein Jahr nach der Sendung der Lysistrata im Fernsehen, wurde eine Ausgabe der Wochenzeitung „Der Spiegel“ beschlagnahmt, die Verlagsräume durchsucht und der Herausgeber in Untersuchungshaft genommen. Grund war ein Artikel über die Bewaffnung der Bundeswehr und deren Beschaffung. Der Vorwurf: Landesverrat. Betreiber der Aktion war jener F.J. Strauß, mittlerweile Verteidigungsminister. Für viele Beteiligte und Beobachter war diese Aktion des Staates mit ursächlich für die Entstehung eines grundsätzlichen Misstrauens gegen den jungen deutschen Staat, das sich dann in der 1968er-Bewegung fortsetzte. Diese war unter anderem gegen den Indochina-Krieg („Vietnam-Krieg“) des NATO-Bündnispartners USA gerichtet.25
Der bisherige Höhepunkt der bundesrepublikanischen Anti-Kriegs-Bewegung dürfte in den 1980er Jahren26 in den großen Demonstrationen und Bündnissen gegen den „NATO-Doppelbeschluss“ zur atomaren Aufrüstung in Europa gelegen haben. Man sah sich durch zusätzliche, sogenannte „taktische Atomwaffen“ auf beiden Seiten bedroht, die eher mal eingesetzt werden könnten. Diese Vervielfältigung der Bedrohung und extrem kurze „Vorwarnzeiten“ der Raketen erhöhten die Gefahr, dass Europa, vielleicht sogar unbeabsichtigt, zum atomaren Schlachtfeld der Weltmächte hätte werden können.27 Diese Eskalation markiert allerdings auch einen Höhepunkt des „Kalten Krieges“. So wurde die Jahrzehnte andauernde Konfrontation zwischen den beiden damaligen Supermächten und den von ihnen dominierten Militärblöcken (NATO und WTO/“Warschauer Pakt“) seinerzeit bezeichnet.28
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion löste sich auch der „Warschauer Pakt“ (WTO) auf. Die NATO hingegen erweiterte in ihrer Satzung ihren möglichen Einsatzbereich auf Länder und Konflikte auch außerhalb ihres eigenen Gebietes.30 Und so hatte die Bundeswehr als Teil der NATO, über 40 Jahre nach der deutschen „Wiederbewaffnung“, 1999 ihren ersten kriegerischen Auslandseinsatz, nämlich im ehemaligen Jugoslawien. Die Bundeswehr war zwischenzeitlich zur Berufsarmee geworden. Insbesondere die Bombardierungen Serbiens31 verursachten in der damals neuen Regierungskoalition aus SPD und Grünen noch heftige innerparteiliche Auseinandersetzungen. Europa-politisch waren die Kriege im zerfallenden Jugoslawien für viele Zeitzeugen rückblickend das Ende der Bestrebungen, die noch junge russische Demokratie politisch und sogar militärisch in die europäische Gemeinschaft einzubinden.32
Wofür Aristophanes steht
Die Schwäche der Mächtigen zeigen
Ein Jahrzehnt vor Lysistrata war der Friede schon fast greifbar gewesen, es gab Verhandlungen, Waffenstillstands- und andere Vereinbarungen, und sogar eine Kriegspause zwischen den Großmächten.33 Aber zur Zeit der Aufführung der Komödie, 411 v. Chr., war der Friede wieder in hoffnungslos weite Ferne gerückt. Aristophanes sorgte mit Lysistrata für Aufregung und Amusement, fand aber praktisch, jedenfalls bei den politischen Entscheidern der Stadt, kein Gehör. An sie wendet sich der Autor aber auch augenscheinlich gar nicht mehr. Vielmehr lässt er sie vor der Akropolis lächerlich versagen und abtreten. Ein Jahrzehnte andauernder Krieg brachte unübersehbar für beide Seiten Tod, wirtschaftlichen Ruin und außerdem noch eine verheerende Seuche.34 Dennoch wurde er unbeirrt fortgeführt, immer auf den nahe liegenden eigenen Sieg hoffend. Aristophanes hatte also genug Grund zu der Annahme, dass die politischen Entscheidungsträger und gesellschaftlich Mächtigen nicht willens oder in der Lage waren, einen vernünftigen Schluss des Dauerkonflikts herbeizuführen.
Bauern und Frauen als Hoffnungsträger
In seinen Schauspielen zum Thema Frieden konzentrierte Aristophanes daher seine Argumentation und Hoffnung auf die gesellschaftlich Schwachen. Die waren offiziell bei den staatlichen Entscheidungen überhaupt nicht vertreten. In vorangehenden Komödien standen die vom Krieg betroffenen armen Bauern in und um Athen im Mittelpunkt.35 In Lysistrata und weiteren Komödien waren es die Frauen. Im Stück Lysistrata sind sie es, die selbst in der abschließenden Verhandlungsphase die inhaltliche Verantwortung übernehmen und den Konflikt mit Hilfe einer Göttin zu einem guten Ende bringen. Der Appell an die Schwachen in der Gesellschaft und die eigene Meinung ist auch als Ausdruck der Stärkung des Prinzips der Demokratie in Athen zu sehen. Im Gegensatz zu konservativen Skeptikern wie etwa Platon36 setzt Aristophanes seine Hoffnung, wenn überhaupt, eher in dieses Prinzip der Demokratie, sogar in ihre Ausweitung auf die Meinungsbildung der (Noch-)Nicht-Mächtigen, auch wenn er die damit einhergehenden Gefahren der Meinungsmanipulation bereits scharfsinnig anprangerte.37
Komödie in der Demokratie
Konsequent wird der Chor von seiner traditionell angestammten Position als Rat der weisen Alten zur einfältigen Versammlung Ewiggestriger degradiert. Ja, Aristophanes stellt dem herkömmlichen Chor der alten Männer sogar einen zweifachen Chor der Frauen gegenüber. Das markiert die Position und Hoffnung des Autors: In den Prinzipien der Demokratie Athens soll sich der Zuschauer, unabhängig von Autoritäten und den einflussreichen Meinungsführern, selbst einen Standpunkt bilden und dabei Vorurteile und Klischees in Frage stellen.38 Über die Fähigkeiten der Frauen zur Politik ebenso wie über das gegnerische Sparta.
Altmeister Aristophanes zeigt mit Lysistrata einmal mehr, was eine gute Komödie ausmacht: Sie lenkt nicht seicht von wichtigen Themen ab, sondern nimmt sie ins Visier. Indem der Zuschauer nicht über andere, sondern über sich selbst lachen muss, erkennt er sich selbst. So kann er seine Haltung angstfrei überprüfen und ändern.
Was bleibt
Der Peloponnesische Krieg dauerte 27 Jahre. Er endete mit einem Sieg Spartas und der zeitweiligen Besetzung Athens mit Wiedereinsetzung des Adels in seine alten Machtpositionen. Für Athen bedeutete das letztlich das Ende seiner Existenz als Stadtstaat samt seiner beispielgebenden Demokratie. Aber auch für Sparta war mit dem Ende des kräftezehrenden Krieges die Zeit als eigenständiger Stadtstaat bald vorbei.39
Aus Athen sind von über 300 Tragödien der drei bedeutendsten Autoren ganze 31 erhalten. Von Aristophanes‘ über 40 Komödien sind 11 geblieben. Der überwiegende Teil der schriftlichen Zeugnisse Athens ist verschwunden. Vieles kennen wir nur indirekt aus späteren Wiedergaben und Zitaten, aus Sekundär- und Tertiärschriften. Über das siegreiche Sparta haben wir heute nur noch wenige, meist indirekt überlieferte Informationsbrocken. Sie stammen zudem allesamt nicht aus Sparta selbst, sondern aus dem Lager seiner Feinde und sind in ihrem Wahrheitsgehalt zweifelhaft.
Es ist anzunehmen, dass der große Spötter Aristophanes sein Modell einer Anti-Kriegs-Strategie nicht wörtlich verstanden wissen wollte. Aber er stellt die Frage, wer wirklich willens ist, Verantwortung zu übernehmen. Und was die vermeintlich Nicht-Mächtigen tun könnten, um einen Kriegszustand zu beenden, in dem sie regelmäßig die eigentlichen Verlierer sind.40 Eine derart radikale Vorstellung von Demokratie, die sogar die Frauen aktiv mit einschließt, konnte damals nur als Utopie, in Form eines zum Schreien komischen Theaterstücks stattfinden.
Erläuterungen, Quellen und weiterführende Links
- Zum Einstieg Drei Anmerkungen zu Textausgaben und Übersetzungen (Warnung! Viel zu lang zum Lesen!):
(1) Wie immer bei antiken Texten, sind neuere Prosa-Übersetzungen zu bevorzugen. Ältere Ausgaben eifern eher dem Versmaß und dem Gebot einer sittsamen Erziehung des vorletzten Jahrhunderts nach. Dabei bleibt der Sinn oft dunkel. Und gerade bei Lysistrata kommen die mitunter saftigen Passagen recht verschwurbelt daher. Als Kurzform zu empfehlen ist etwa die Übersetzung von Peter Krumme von 1993 bei Schultheatertexte.de [dem entstammen hier auch die direkten, kursiv geschriebenen Zitate] und, mitunter noch expliziter, die Übersetzung von Niclas Holzberg von 2012 bei Reclam.
(2) In dieser zweisprachigen Reclam-Ausgabe kann man sich, Sprachkenntnis vorausgesetzt, auch davon überzeugen, dass der Originaltext tatsächlich so krass, prall und gespickt mit Doppeldeutigkeiten war. Allerdings lassen sich solche Wörter und Wendungen naturgemäß nur schwerlich 1:1 vom Griechischen derart ins Deutsche übertragen, dass der Doppelsinn erhalten bleibt. Oft muss man sich für eine der beiden Deutungen entscheiden oder neue Bilder finden. Wo etwa Lysistrata in der Krumme-Übersetzung von „Bananen“ als Ersatz für die ausbleibenden Männer spricht, sind es im Original eher „böotische Aale“ (siehe Anm. 5 ). Die Anspielung bezieht sich auch darauf, dass Böotien zum gegnerischen Lager gehörte. In der Reclam/Holzberg-Ausgabe sind derlei Wortspiele im Anhang erklärt. Auch das Deutsche hält besonders für den erotischen Bereich eine Unmenge von Bildern und Doppelsinnigkeiten vor, die sich so kaum in eine andere Sprache übersetzen lassen. Z.B. „besorgen“ oder manchmal auch „bedienen“ – von den unzähligen Umschreibungen für den geschlechtlichen Vorgang selbst und Praktiken sowie bildhaften Bezeichnungen der daran beteiligten Körperteile ganz zu schweigen. Dagegen wirkt auch im Deutschen eine blanke, etwa medizinische oder radikalvulgäre Benennung meist eher reizlos. Was zum Beispiel mag die bei der Verschwörung unter den Don’ts katalogisierte „Löwin auf der Käseraspel“ sein? Jede Vereindeutigung oder Vulgärbeschreibung wäre da arm.
Insgesamt aber ist die griechische Antike augenscheinlich sehr viel offener mit dem Thema Sexualität umgegangen als unsere von repressiv kirchlicher Moralvorstellung geprägte abendländische Gesellschaft in den vergangenen Jahrhunderten.(3) Die Frage der Textvarianten und der Vollständigkeit der Ausgaben lassen wir hier mal außen vor. Ein wenig findet sich themenbezogen unten in den Anmerkungen zum Chor. Natürlich gibt es keine authentische „Urfassung“ des Autors. Der griechische Text, den wir kennen und der den diversen Übersetzungen ins Deutsche zugrunde liegt, entstammt einer handschriftlichen Abschrift aus dem klösterlichen Mittelalter und ist auch nicht ganz vollständig. Eine gute und zudem sprachlich unanstößige Zusammenfassung der Handlung und Interpretation bietet Kindlers Neues Literatur-Lexikon, Studienausgabe München 1988, mittlerweile auch digital verfügbar, dem viele Informationen und auch einige heikle Formulierungen entnommen wurden.
- griechisch Λυσιστράτη / Lysistrátē, aus griech. λύσις/lysis „Auflösung“ (daher auch die deutschen Ableitungen griechischer Komposita wie „Ana-lyse“, „Dia-lyse“) und στρατός/stratós „Heer“ (daher deutsch „Strategie“)
- „Leiden wurden über Griechenland gehäuft wie niemals sonst in einem gleichen Zeitraum. Nie wurden so viele Städte genommen und verwüstet…Nie wurden so viele Menschen aus der Heimat vertrieben und entweder bei den Kämpfen selbst oder bei den inneren Unruhen umgebracht.“ So der zeitgenössische Historiker Thukydides. Hier bei Cosmiq findest du eine ausführliche Darstellung seiner Analyse des Peloponnesischen Krieges].
- Während die Athenerinnen noch auf die Ankunft der anderen warten, sagt sie: „Athen: darüber sag ich nichts, du kannst es dir schon selber denken! Doch alle Frauen, wenn sie nur kämen, die aus Böotien, die aus Sparta, und wir: gemeinsam retten wir Griechenland!“ (Böotien war mit Sparta ein Hauptgegner Athens.)
- „Sehnt ihr euch nicht nach den Vätern eurer Kinder, die im Krieg sind draußen? Weiß ich doch genau: keine hat ihren Mann bei sich zuhause!“ Und expliziter und vertraulich: „Kein Liebhaber mehr da. Und da es keine Einfuhr gibt, sind auch noch die Bananen ausgeblieben! Ersatz nur, aber immerhin! Wollt ihr, wenn ich ein Mittel wüsste, mit mir zusammen, dem Krieg ein Ende machen?“
- „Gewiss doch! Wenn wir im Haus frisch geschminkt herumsitzen, an ihnen im durchsichtigen Hemdchen vorüberstreichen, halb nackt, das Delta schön geformt, und ihnen wird ganz anders, den Männern, sie möchten gern – wir wollen aber nicht, sondern weisen sie zurück – dann werden sie schnell Frieden schließen, glaubt es mir!“ (Übersetzung Krumme, immerhin für die Schulaufführung gedacht. Die Holzberg-Übersetzung benennt da gar ausdrücklich das physische Anzeichen der Erregung und sein Ziel).
- Ganz zufällig ;-) hieß auch die erste Frau des Staatschefs von Sparta, Archidamos, „Lampito“. Archidamos war anfangs eher gegen den Krieg gewesen. Als „König“/Feldherr Spartas gegen Athen fiel er dann allerdings schon 427 v.Chr., also vor der„Lysistrata“-Aufführung. Inwieweit die Zuschauer diese Anspielungen verstanden, wissen wir nicht. Heute sind wir prüder: Die amerikanisch-puritanisch konditionierte künstliche Intelligenz ChatGPT kommt da gar nicht drüber weg: Eine sprachliche Verknüpfung von „Königin“ und „Sexstreik“! Algorithmisch sehr unerwartet! Das Problem: ChatGPT kann nicht wirklich zwischen Realität und Fiktion und verschiedenen Kontexten unterscheiden. Daher cheated er gegen alle Logik mit den Jahreszahlen und findet diese Verbindung damit standhaft „unwahrscheinlich“. Zudem sind für ChatGPT Geschichtszahlen sowieso nur Schall und Rauch.
- In vielen aktuellen Fassungen antiker Stücke wird der Chor-Part gerne gekürzt, weil er oft unverständlich erscheint und kaum Handlung enthält. Aber dadurch geht einiges verloren. Im antiken Schauspiel ist die Handlung als Action eher eingeschränkt (kreisrund offene Bühne, keine Kamerafahrten). Es lebt mehr vom Wort, von der Deklamation und dem Dialog. Der Chor war Ursprung und dann fester Bestandteil des griechischen Schauspiels. Denn das Theater entstand historisch aus einer religiösen Prozessions- und Gesangs-Zeremonie. Das Wort „Chor“ stammt von χορεύειν /choreúeïn = „(Reigen) tanzen“, so auch noch im Neugriechischen. Daher war der Chor im Theater anfänglich sozusagen die Basis der Darstellung, aus der sich zunächst einzelne Rollenträger herauslösten. Anfangs im Wechselgesang mit dem Chor, später in Interaktion/Dialog untereinander. Im Schauspiel mit verteilten Rollen dann erklärt und kommentiert der Chor ursprünglich die Handlung. Er leitet den Zuschauer gleichsam durch das Geschehen wie ein Fernseh-Moderator durch die Spielshow. Traditionell also die Instanz der Wahrheit, wird der Chor bei den späteren Autoren wie Aristophanes, Euripides und Sophokles dann aber zu einer durchaus fehlbaren Stimme, fast wie der „unzuverlässige Erzähler“ in einigen modernen Romanen. Diese Entwicklung der Rolle des Chors verläuft parallel zum Erstarken der demokratischen Einrichtungen im athenischen Staatswesen.
- So die vollständigere Fassung. Die Schlacht bei Marathon war 490 v. Chr., also 79 Jahre vor der Aufführung der Lysistrata. So um die 100 Jahre alt wurde man(n) damals aber auch bei atypisch gesunder Lebensführung nicht. Wir haben es hier also mit ironischer Übertreibung zu tun. Als wenn Opa heute mit seinen Kriegserlebnissen bei Stalingrad oder in Nordafrika unter Rommel angeben und von „Leipzig-einundleipzig“ salbadern würde. [Zur Bedeutung des Mythos „Marathon“ als Fundament des kriegerischen Selbstverständnisses Athens (mit aktuellem Bezug) siehe den Beitrag zum Peloponnesischen Krieg].
- Akropolis (deutsch etwa: „Gipfelstadt“): innerstädtischer, zentraler Festungshügel und Heiligtum der Götter. Auch heute noch thronen dort viele Tempel aus der Antike weithin sichtbar über der Stadt. Ihre Beschädigungen stammen aus zahlreichen Kriegen. Am verheerendsten war Ende des 17. Jh. die Explosion eines Munitionslagers (Pulvermagazins), das die türkische Besatzungsmacht dort eingerichtet hatte, durch venezianischen Artillerie-Beschuss. Die andere Quelle der Zerstörung ist der moderne Smog aus den ureigenen Athener Abgasen, so dass sich die Akropolis auch im Frieden eigentlich ständig in Reparatur befindet.
- Schon im Prolog (Eingangsszene) weiß Kalonike (deutsch etwa „Schön(e)/gut(e) Sieg(erin)“), warum Frauen sich seit jeher so schwer tun, zu gemeinsamer Aktion zusammenzufinden: „Von zu Hause wegzukommen, ist für Frauen schwierig. Die eine muss es dem Mann besorgen, die zweite den Sklaven wecken, die dritte sich um ihr Kind kümmern, … es waschen, … es füttern…“
- Im Orakel von Delphi empfing und stammelte eine Priesterin in Trance göttliche Weissagungen. Diese wurden dann „übersetzt“ und verkündet von den (männlichen) Priestern des Heiligtums – nach (und je nach!) den Spenden der Fragenden. Das Orakel hatte daher schon damals einen nicht unbezweifelten Ruf, aber kaum jemand wagte, die Zweifel laut zu äußern; den sagenhaften Fabeldichter Äsop z.B. kostete das vielleicht sogar das Leben. Das Orakel wurde immer wieder gerne politisch-taktisch zur Vereinheitlichung des Vorgehens eingesetzt und war immerhin überörtlich anerkannt.
- So verspricht sie ihm vorher noch eine Salben-Massage: Oh, das war ja die falsche Salbe, ich hole schnell noch die gute… dann, im O-Ton: „…Leg dich hin und schließ die Augen. Ich zieh mich aus. – Es fehlt was Weiches! Die Unterlage!…“ [so die noch recht brave 1960er Film-Fassung von Kortner, siehe unten im Abschnitt „Die umstrittene Fernseh-Aufführung“.]
- Frauen durften bestenfalls nur in kleinen Gruppen in den oberen Rängen ganz hinten im Theater sitzen. Im Bereich der Religion und auch in anderen griechischen Staaten und Traditionen sah das, sofern wir wissen, teilweise durchaus etwas anders aus. [Die wohl umfangreichste Darstellung des Themas Patriarchat in der Antike, heiß umstritten im aufkommenden Feminismus der 1970er Jahre, befindet sich in Ernest Bornemann, Das Patriarchat, Frankfurt/M. 1975]
- In Lysistrata ist der Chor streckenweise sogar in mehrere Parteien – Männer und 2x Frauen – geteilt. Das Publikum kann sich jedenfalls auf den Chor oder eine andere Autorität nicht mehr verlassen; es muss sich seine Meinung selbst bilden. [Zur Rolle des Chors siehe auch die Anmerkung 8 im Abschnitt „Kampf gegen die Männer“.]
- Diese Vorurteile verwendet der Athener Staatschef Perikles, um zum Krieg gegen Sparta aufzurufen. [Ausführlich im Cosmiq-Beitrag über den Peloponnesischen Krieg.]
- Darauf wird in der Schluss-Szene auch kurz angespielt. Zu Aristophanes‘ Zeiten schrieb man insbesondere der bessergestellten Jugend den typisch „Athener Gesichtsausdruck“ zu: ein hochmütiges, skeptisch überlegenes Lächeln, etwa im Sinne von „mir kann niemand etwas weismachen“ [siehe den Kommentar von 1861 zu Aristophanes, Die Wolken]. Nicht von ungefähr hatten die Athener als Schutzpatronin Athene, die Göttin des Verstandes und der Vernunft, Kopfgeburt des Zeus (sie entstand also ohne weibliche Beteiligung). Auf offiziellen Siegeln und Münzen Athens bildete man gerne die Eule ab, das antike Symbol der Weisheit.
- Ansonsten waren die Männer in der Komödie in hautfarbene Trikots mit prägnant ausgestopftem Gesäß gekleidet, darüber ein kurzes Tuch-Hemdchen. Die Frauen-Gestalten hingegen hatten traditionell ein langes Gewand. Alle Schauspieler trugen Masken, die ihre jeweilige Rolle kennzeichneten. Es gab mithin auch keine Mimik, sondern nur Sprache und Bewegung.
- Zugelassen als Schauspieler waren von Staats wegen nur Männer. Dabei handelte es sich um Laien-Darsteller. In seiner früheren Komödie „Die Ritter“ brach Aristophanes allerdings bewusst diese Regel: In der Schluss-Szene ließ er überraschend dreißig Straßendirnen als Friedensnymphen über die Bühne tanzen. Ausgerechnet sie waren in dem Stück die Garantinnen für den „Dreißigjährigen Frieden“ – ein gelungener, bis heute überlieferter Theater-Skandal. Der „Dreißigjährige Friede“ war 445 v.Chr. zwischen Athen und Sparta geschlossen worden und wurde mit Beginn des Peloponnesischen Krieges gebrochen. [Über Geschichte, Regeln, Konzeption und Abläufe des antiken griechischen Theaters findet sich eine etwas pauschal geratene Zusammenfassung auf Superprof, leider mit penetranter Nachhilfe-Reklame.]
- Diese unüberhörbar nicht-attische Variante des Griechischen wird in deutschen Übersetzungen gern mit Bayrisch wiedergegeben. [Gerechterweise könnte das attische Griechisch der Athener dann eigentlich auch mit Ohnsorg-Plattdeutsch dargestellt werden, aber das hat noch kein*e Übersetzer*in gewagt.] Zuvor, geprägt vom Nationalismus des 19. Jahrhunderts, sprachen die Spartaner auch in Schwyzerdütsch.
- „Die Sendung der Lysistrata“, Fernsehfilm von Fritz Kortner, mit Barbara Rütting (Lysistrata), Romy Schneider (Myrrhine) und anderen, auch als DVD erhältlich. Der WDR-Fernsehdirektor Dr. Lange sagte damals laut Spiegel: „Mit meiner Frau zusammen würde ich den Fernsehfilm nicht sehen wollen. Auch nicht mit meinem 19jährigen Sohn.“
- Damals gab es keinen Kabel- oder SAT-Empfang, keine Mediatheken, keine Videos oder DVD und kein Internet. Das heißt ganz schlicht, die Bürger von Bayern konnten diesen Film nicht sehen. Die Dritten Programme waren damals ohnehin schon jenseits des Mainstreams eher für die intellektuelle, kritische Minderheit konzipiert, etwa wie heutzutage die TV-Sender alpha oder Phoenix.
- Zur verschlungenen und verzweigten Biografie von Franz Joseph Strauß, der, zusammen mit seinem (rhetorisch ebenbürtigen und ähnlichen) Gegenpol Herbert Wehner, als Politiker die Nachkriegszeit der Bundesrepublik entscheidend prägte, gibt es einen politgeschichtlich einschlägigen Wikipedia-Artikel.
- „Unbewaffnet wie das Amt Blank“ höhnt der wortbrüchige Gauner mit Knarre in der Hand im damals viralen Comic „Nick Knatterton“.
Der offizielle Name des Amts lautete „Dienststelle des Bevollmächtigten des Bundeskanzlers für die mit der Vermehrung der alliierten Truppen zusammenhängenden Fragen“. Es sollte vorgeblich nur für die alliierten (Besatzungs-)Streitkräfte in Deutschland zuständig sein. Sein Leiter, Theodor Blank, wurde dann 1955 erster Verteidigungsminister der BRD, gefolgt von dem CSU-Politiker Franz Joseph Strauß.
Ein Schlaglicht auf die erbitterte Auseinandersetzung um die bundesrepublikanische „Wiederbewaffnung“ wirft eine Friedensdemonstration und ihre Bewertung von 1952, bei der ein Demonstrant von der Ordnungsmacht erschossen wurde. - Dass auf der anderen Seite des indochinesischen Befreiungskriegs auch die Großmächte Sowjetunion und China ihre eigenen jeweiligen Interessen verfolgten, lag lange Zeit eher am Rande des Blicks der Bewegung. Die für den amerikanischen Rückzug entscheidenden Verhandlungen wurden schließlich, ganz in kolonialistischer Tradition, weitgehend ohne Beteiligung der betroffenen indochinesischen Staaten in Gang gesetzt.
- Zeitlich mittig zwischen dem Protest um die atomare Aufrüstung der Bundesrepublik (1950er) und der Bewegung gegen die Stationierung auch „taktischer Atomwaffen“ durch die USA (1980er) hatte sich dann übrigens auch der Bayrische Rundfunk, sittliche Bedenken nunmehr überwindend, zur Ausstrahlung der „Sendung der Lysistrata“ durchgerungen. Das war 1975, deutlich nach dem Ende des „Vietnam-Kriegs“ und der diesbezüglichen Proteste.
Weitere Lysistrata-Bearbeitungen begleiteten die politische Debatte in der Bundesrepublik. So 1973 von dem streitbaren Dramatiker Rolf Hochhuth („Lysistrate und die Nato“) und 1986 von dem renommierten Philologen und Autor Walter Jens („Die Friedensfrau“). Zur Aktualisierung der Rezeption beigetragen hat auch die Neuübersetzung des Originals von Erich Fried, 1979 zur Aufführung gekommen bei den Ruhrfestspielen. - „Besuchen Sie Europa (so lange es noch steht)“ tönte es damals sarkastisch in den deutschen Charts. Der „NATO-Doppelbeschluss“ sah eine Aufrüstung auch mit (kleinen) „Taktischen Atomwaffen“, ergänzend zu den (großen) „Strategischen Atomwaffen“, vor – konzeptionell analog zu entsprechenden Aufrüstungen des sowjetischen Gegners. Angestrebt bzw. befürchtet wurde, dass „taktische Atomwaffen“ eher, eben auch „taktisch“, eingesetzt werden könnten – in der (vermeintlichen) Hoffnung, dadurch einen „finalen Atomschlag“ (mit Auslöschung der menschlichen Zivilisation) nicht auslösen, sondern einen „taktischen“ Atomkrieg auf Europa eindämmen zu können. „Taktische“ Raketen, an der Grenze zum Gegner stationiert, haben eine Flugzeit von ca. 10 Minuten bis zum Ziel. Man hätte dann also weniger als 10 Minuten Zeit, auf den „Roten Knopf“ zu drücken und den Gegenschlag auszulösen, wenn auf dem Radar irgend etwas auftaucht, was nach Rakete aussieht – „WarGames“ als Blitz-Schach in echt sozusagen, mit absolut tödlichem Ausgang.
Beim „NATO-Doppelbeschluss“ nicht so ausgesprochen wurde die – letztlich erfolgreiche – Bestrebung, durch erhöhte Rüstungsaufwendungen den finanziellen Ruin der Sowjetunion zu beschleunigen. [Eine Zusammenfassung zum NATO-Doppelbeschluss über die Aufrüstung mit „taktischen Atomwaffen“ findet sich u.a. in Planet Wissen, hier.]
Der Plan einer eigenen atomaren Aufrüstung der Bundesrepublik war zwischenzeitlich ersetzt worden durch das Konzept der „Nuklearen Teilhabe“. Das heißt verkürzt: Auf dem Gebiet der Bundesrepublik befinden sich Atomraketen der USA (die u.a. auch von kompatiblen deutschen Kampfflugzeugen abgefeuert werden können) – aber den Schlüssel dazu haben die USA. - In diesen Jahrzehnten gab es periodisch wiederkehrende Bedrohungs- und Krisenszenarien. Die dramatischste war wohl die „Kuba-Krise“. Das war ebenfalls 1962, nach der dortigen Revolution, die unter anderem US-Unternehmen enteignete. Die USA verhängten ein Embargo, scheiterten aber mit einer verdeckten Invasion aus Exilkubanern. Kuba bat daraufhin die Sowjetunion um wirtschaftliche und militärische Unterstützung. Und so begann Russland, auf Kuba Truppen und Mittelstreckenraketen zu stationieren. Die USA sahen Raketen dort, 150 km vor der US-amerikanischen Küste, als unannehmbare Bedrohung ihres Territoriums an (die Sowjetunion sprach natürlich von der Verteidigung des kubanischen Bündnispartners). Und so eskalierte die Konfrontation binnen weniger Tage. Drohungen mit Worten und Waffen steigerten sich, es kam zu einzelnen Zusammenstößen auf dem Meer. In den USA wurde akute Alarmbereitschaft für den Einsatz ihrer Atomwaffen ausgelöst. Der kubanische Staatschef Castro forderte von seinem neuen Verbündeten, im Falle einer US-Invasion auf Kuba die USA mit auch atomaren Raketen anzugreifen. (Zuvor, 1959, noch ohne US-Bedrohung, hatte der frisch gebackene Staatschef Castro die Sowjetunion noch als „schlimmste Despotie“ bezeichnet, vor allem mit Blick auf deren Einmarsch in Ungarn, und jegliche Verträge mit ihr abgelehnt [Enzensberger, Tumult, S. 139]). Das aber lehnte der russische Staatschef Chruschtschow ab, weil das den Beginn eines Atomkriegs bedeutet hätte, wie er Castro in einem internen Schreiben erklärte. Castros Bestreben war sicherlich, das eigene, schwache Land durch den Schutz einer Großmacht unangreifbar zu machen. Die Eskalation folgte der im Krieg herrschenden Logik, dass gegen das Böse/ den aggressiven Gegner nur Abschreckung und Waffen hülfen. Dass hingegen Gespräche als Schwäche ausgelegt würden, die den Gegner zu weiterer Aggression ermutigen würden. Trotzdem aber fanden parallel zu den Drohgebärden ununterbrochen Gespräche und sogar Geheimtreffen zwischen den gegnerischen Großmächten und ihren führenden Politikern statt. Schließlich verzichtete Russland/WTO ausdrücklich auf die Raketen-Stationierung in Kuba – im Gegenzug entfernten die USA Mittelstrecken-Raketen in der Türkei (dem unmittelbaren Nachbarstaat der Sowjetunion und NATO-Mitglied). Teil der Abmachung war außerdem das Versprechen der USA, Kuba künftig nicht militärisch anzugreifen. Diese und viele andere Regelungen fanden unter dem Mantel der Geheimhaltung statt. Dadurch konnten beide Regierungen sich vor ihren jeweiligen Bevölkerungen als Sieger des Konflikts (und die jeweils bösen anderen als Verlierer) darstellen.
Die bundesrepublikanische Regierung verteilte in der Kuba-Krise an ihre Bürger nicht nur Anleitungen zur Vorratshaltung von Lebensmitteln, sondern auch zum Ausbau von privaten Kellern zu „atomsicheren“ Bunkern und ihrer Ausstattung für ein längeres Bunker-Leben. In den USA gab es – entgegen der überall herrschenden kriegerischen Lagermentalität mit Verteufelung des Gegners – auch eine kleinere Gruppe von Frauen, die als Women Strike for Peace für eine friedliche Beilegung des Konflikts demonstrierten. [Lohnend die spannende Schilderung der Kubakrise bei wikipedia mit vielen Hintergrund-Infos]
Mit der Kuba-Krise wurde weiteren Kreisen der Zivilbevölkerung auf beiden Kontinenten bewusst, wie nahe sie sich im Konflikt der Großmächte am Abgrund einer atomaren Auslöschung bewegen. Die Erfahrung mit der expansiven Logik des „Kalten Krieges“ trug Jahrzehnte später wesentlich zu einer (vorübergehenden?) Überwindung der Mechanik des Wettrüstens bei. Sie sollte ersetzt werden durch die Idee einer globalen, nicht konkurrierenden Verantwortung für den Frieden. Diese Idee wurde u.a. initiativ von Gorbatschow formuliert. In den 1990ern wurde sie von beiden Seiten durch eine beispiellos massive Abrüstung, z.B. die Vernichtung ganzer Raketengattungen und vertrauensbildende gegenseitige Kontrollmechanismen ansatzweise in Angriff genommen. - Die Freundinnen Irina und Albina, Russin und Ukrainerin, beide Krankenpflegerinnen, trugen beim traditionellen Kreuzweg des Vatikans zu Karfreitag 2022 in einer Etappe gemeinsam das Kreuz. An der 13. Station des Kreuzwegs wollten sie für Versöhnung meditieren. Dagegen hatten schon im Vorfeld Vertreter des ukrainischen Staates und der ukrainischen katholischen Kirche protestiert. Und mehrere ukrainische Medien boykottierten deswegen die traditionelle Live-Übertragung der Prozession. In ihrem Prozessions-Gebet/Meditation beließen es die Frauen schließlich bei einer allgemeinen Friedensbitte. Im übrigen, so fügten sie an, sage „Stille mehr als Worte“. Im ursprünglich geplanten Text ihres Meditations-Gebets heißt es hingegen: „Sprich in die Stille des Todes und der Trennung und lehre uns, Frieden zu schließen, Brüder und Schwestern zu sein.“
- Diese so genannten „Out-of-Area“-Einsätze von NATO-Truppen wurden und werden auch offiziell vom Bundesministerium für Verteidigung als „Aufgabenerweiterung der NATO nach dem Kalten Krieg“ bezeichnet. Mittlerweile hat es die Bundeswehr auf geschätzt 13 kriegerische Auslandseinsätze gebracht, von der Westsahara über Mali, den Sudan, Syrien bis nach Afghanistan. [Eine Liste des bpb findest du hier].
- Die Bundeswehr griff als Teil der NATO in die Kämpfe der Teilstaaten des ehemaligen, zerfallenden Jugoslawiens ein. Sie intervenierte zunächst in Bosnien-Herzegowina, dann mit umfassender Waffengewalt auch in den Kosovo-Krieg. Dabei kam es zum Bombardement Serbiens mit seiner Hauptstadt Belgrad. [Einen kurzen Rückblick bieten die Stuttgarter Nachrichten]. Die Bombardierung Belgrads wurde mit bekannt gewordenen Kriegsverbrechen serbischer Truppen gegenüber den anderen Kriegsparteien begründet. Besonders die Verbrechen an deren Zivilbevölkerung rief Entsetzen hervor. Heute weiß man, dass die Schilderungen der systematischen Grausamkeiten seitens der serbischen Armee kaum übertrieben waren. Man weiß allerdings auch, dass Kriegsverbrechen, wie in allen Kriegen, sich mit Eskalation des Krieges parteiübergreifend ausbreiten und meist alle Beteiligten, wenn auch in unterschiedlichem Maße, zu Schuldigen werden lässt.
- [Hier findest du einen Einblick in die Auseinandersetzungen in der rot-grünen Regierungskoalition]. Die Grünen waren auch durch die vorangegangene Friedensbewegung gestärkt und geprägt worden. Und es war noch nicht sehr lange her, dass viele dort sogar gegen die weitere Mitgliedschaft Deutschlands in der NATO gewesen waren. Bei den Grünen hatte man die NATO damals als überholt angesehen. Man strebte eine neue, europäische Sicherheitsarchitektur an. Zumal nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1989/1990 und der Auflösung des sowjetischen „Warschauer Pakts“ (WTO) wirke die NATO eher bedrohlich und als tendenziell expansiv-aggressiv.
Jener Einsatz der Bundeswehr/NATO im jugoslawischen Kosovo-Krieg ohne UNO-Mandat war auch völkerrechtlich umstritten. In der UNO hatte sich federführend Russland gegen die Bombardierung Serbiens gewandt. Man sah sich im Jugoslawien-Konflikt an eine alte Frontstellung erinnert: Serbien als Bündnispartner des zaristischen und dann des sowjetischen Russlands, Kroatien als der des deutschen Kaiserreichs und des deutschen Faschismus. Aber das post-sowjetische Russland, durch seinen eigenen Umbruch geschwächt und auch wirtschaftlich angeschlagen, hatte bei der internationalen und europäischen Entscheidungsfindung auch hier kaum Gewicht. Russland war erst wenige Jahre vor dem Krieg in Jugoslawien in die Marktwirtschaft zurückgekehrt. Und es war in hohem Maße abhängig von der Unterstützung durch den IWF (Internationaler Währungsfonds, der Kredite an Staaten vergibt). Dabei gab es damals durchaus die beiderseitige Hoffnung, Erklärungen und auch Absprachen, Russland, wie andere osteuropäische Staaten auch, in ein europäisches, marktwirtschaftliches Bündnis einzubinden und sogar in die NATO. Spätestens mit der Bombardierung Serbiens aber wurde der Jugoslawien-Konflikt zur Konfrontation auch zwischen der NATO und Russland. Damit war für viele Historiker und Zeitzeugen das Projekt der Einbindung Russlands in eine europäische Gemeinschaft gescheitert. Die Konfrontation wurde für das Verhältnis Russland – NATO/EU (wieder) vorherrschend. - Der so genannte Nikiasfrieden von 421 v.Chr. [ausführlich mit Zusammenhang im Beitrag über den Peloponnesischen Krieg]. Aristophanes lebte 450 oder 444 bis 380 v. Chr.
- Die „Attische Seuche“, vielleicht eine Pest, brach 430 v.Chr., nach Beginn des Krieges, in Athen aus und dezimierte seine Bevölkerung um ca. ein Drittel. Unter anderem starb der Staatschef Perikles an der Seuche, unter dessen Führung der Krieg begonnen hatte. Genaueres zur Seuche findest du hier bei Cosmiq im Artikel zur Geschichte der Seuchen vor Corona.
- Erhalten ist z.B. seine Komödie Die Archaner, wo ein vom Krieg geschädigter, friedenssehnsüchtiger Kleinbauer für eine Handvoll Drachmen kurz entschlossen seinen Privatfrieden mit dem feindlichen Sparta schließt, materiell gegründet auf die jährliche Lieferung eines Fasses Wein. Dabei war Aristophanes tatsächlich so mutig, seinem Publikum auch die Interessen und Gründe der feindlichen Spartaner zu Gehör zu bringen. Allerdings lässt er keinen Zweifel daran, dass man sich damit als „Sparta-Versteher“ in große Gefahr begab: Sarkastisch lässt er diese Infos durch seine Hauptfigur dem Mob mit dem Kopf auf dem Hackklotz darlegen. [Aristophanes, Die Archaner, 425 v.Chr.].
- [Seine und andere zeitgenössische Meinungen zur Athener Demokratie findest du im Anhang zu jenem Cosmiq-Artikel über den Peloponnesischen Krieg.]
- Von den erhaltenen Stücken insbesondere in Die Wolken, aber auch in Die Ritter. Ausführlicher über die Athener Demokratie und über die Bauern als Verlierer des Krieges unser Thukydides-Beitrag.
- In den demokratischen Versammlungen und Entscheidungen wurde von allen Beteiligten erwartet, dass sie eindeutig Position beziehen: dafür oder dagegen. Abwartendes Schweigen oder allgemeines Gelaber und unbestimmtes Herumgeeiere waren verpönt und wurden mitunter in Gremien gar bestraft. [Eine ausführlichere Darstellung der Athener Demokratie findest du im Cosmiq-Beitrag über den Peloponnesischen Krieg.]
- [Verlauf und Ende des Krieges beschreibt mittlerweile ausführlich ein gesonderter Cosmiq-Beitrag.]
- Der vorliegende Artikel über Lysistrata entstand vor dem Einmarsch Russlands in die Ukraine (24.02.2022). Danach entstand aus Anmerkungen nach und nach der gesonderte Artikel über den Peloponnesischen Krieg als Modell (und natürlich Bild und Text zur Karfreitagsprozession 2022), auf den hier öfter verwiesen wird: Der Autor hat nochmal den Thukydides-Text gelesen, und die Parallelen erschienen ihm allzu schlagend, manchmal fast unheimlich.