„etwas zu Trinken“ oder „etwas zu trinken“? Groß oder klein? (Rechtschreibung)
Was ist richtig? „etwas zu Trinken“ oder „etwas zu trinken“? Schreibt man „trinken“ hier groß oder klein? Eine von vielen Fragen aus den Tücken der deutschen Rechtschreibung, besonders der Groß- und Kleinschreibung. Wer so eine Frage stellt, ist keineswegs dumm. Im Gegenteil: Er oder sie beweist mit der Frage, nachgedacht zu haben, zeigt Sprachgefühl und Interesse. Auch hier führt uns die Rechtschreibung logisch zu einigen Bauprinzipien der Sprache (Grammatik) und damit zu der Frage, wozu und wieviel man davon eigentlich braucht.
Max meint: „trinken“ schreibt man klein. Alle Verben (Tätigkeitswörter) schreibt man klein, und „trinken“ ist ein Verb. Sophia wendet ein: Aber man kann Verben „substantivieren“, zu einem Substantiv (Hauptwort) machen, auch das Trinken. Und dann schreibt man sie groß. Ulf findet das alles nicht so wichtig. Hauptsache, man versteht, was gemeint ist.
Wer hat Recht? Oder alle? Oder keiner? Und was, verflixt, macht uns hier so unsicher? Das Geheimnis liegt in dem kleinen, unschuldig daherkommenden Wörtchen „zu“. Ja Max, wir gehen systematisch vor, Schritt für Schritt, versprochen, und mit vielen Beispielen (kursiv in Blau).
Inhalsverzeichnis
Das Multitalent „zu“
In seiner Entwicklung1 hat das Wörtchen „zu“ schließlich drei verschiedene mögliche Funktionen im Satz übernommen, es spielt sozusagen verschiedene grammatische Rollen:
● als Konjunktion (Bindewort),
● als Präposition (Verhältniswort) und
● als Adverb (Umstandswort)
Klar, Max, erklären wir jetzt alles der Reihe nach.
„zu“ als Umstandswort (Adverb)
Als Adverb/Umstandswort, inhaltlich als nähere Bezeichnung eines Zustands, ist „zu“ leicht zu erkennen:
● „Die Tür ist zu“ – „Mach den Mund zu“2
● so auch auch in festen Wendungen wie „Los, mach zu!“ (= beeil dich) – „ab und zu“ (= manchmal)
● in der Bedeutung „mehr als richtig“ wie in „Ich bin einfach zu doof für Mathe“ – „zu schade, dass wir nicht kommen können“.
Richtig Sophia, das Thema „zu“ als Adverb können wir hier abhaken, weil „zu“ in dieser Rolle offenbar gar nichts mit unserer Frage – Verben groß oder klein? – zu tun hat. Auch nicht, wenn man „zu viel“ trinkt.
„zu“ als Bindewort (Konjunktion)
Konjunktionen oder Bindewörter sind zum Beispiel „und“, „oder“, „aber“, „als“, außer“ und alle Einleitungen von Nebensätzen wie „weil“, „wenn“, „obwohl“ und andere. Konjunktionen/ Bindewörter bezeichnen also (logische) Verhältnisse zwischen Wörtern, Satzteilen oder gar Sätzen.
Die Konjunktion „zu“ hat hier eine Spezialaufgabe: Sie steht in Verbindung mit Verben (Tätigkeitswörtern); das sind z.B. „laufen“, „denken“, „schlafen“, „lernen“, „essen“ und „trinken“ und viele mehr. Diese Kombi nennt man meist „Infinitiv+zu“.
Genauer: „zu“ steht in der Regel zusammen mit dem Infinitiv/ der Grundform der Verben: Grundformen sind „gehen“, nicht „gehst“ oder „ging“ – „träumen“, nicht „träumst“ oder „träumte“ – „aufstehen“, nicht „steht auf“ oder „aufgestanden“. Im vollständigen Satz bezeichnet dabei die Konjunktion „zu“ das Verhältnis „ihres“ Verbs zu einem anderen oder, wenn das ausgelassen ist, jedenfalls zum logisch übergeordneten Satzteil: Kurz gesagt, „zu“ bedeutet hier: „jetzt kommt das (untergeordnete) Verb in Grundform/Infinitiv“. Beispiele:
● „Ich bitte dich zu kommen“ – „Statt zu antworten, verließ er den Raum“. – „Ohne zu lernen, kann man den Test nicht bestehen“.
● Oft gibt es diese „zu“-Kombinationen mit typischen anderen Verben, die diesen „Infinitiv+zu“ geradezu verlangen: „Du brauchst nicht zu kommen“. – „Wir wünschen den Chef zu sprechen“. – „Opa pflegt nach dem Mittagessen ein wenig zu schlafen.“
● Oft steht „Infinitiv+zu“ auch in Kombination mit „es gibt“: „Es gibt viel zu tun / zu lernen, machen wir erstmal Pause.“ Aber auch (heij, Ulf, aufwachen!): „Wir gehen zu Ulfs Gartenparty. Da gibt es bestimmt viel zu trinken und lecker zu essen.“
● Manchmal steht „Infinitiv +zu“ mit dem Hilfsverb „haben“ und bekommt dann den Sinn von „müssen“: „Soldaten haben zu gehorchen!“ – „Du hast hier nichts zu melden!“ – „Wir haben genug zu tun“.
● Aber auch im Sinne von „zur Verfügung haben/ können“: „Ich habe auch etwas zu sagen“. Aber eben auch (holla, Ulf, wach bleiben!): „Habt Ihr etwas zu trinken?“ – „Wir haben genug zu essen und zu trinken dabei.“
● Sehr oft steht die Kombination „Infinitiv + zu“ auch mit dem Verb „sein“. Das ergibt dann den Sinn von „möglich“ oder „erforderlich“: „Der Lehrer ist nicht zu verstehen.“ – „Wir sind nicht zu schlagen.“ – „Das ist nicht zu glauben“. Das gibt es oft auch unter Auslassung des ersten Teils, als unvollständigen Satz / Ausruf: „Nicht zu fassen!“ – „Nicht zu glauben!“ – „Nicht zu ertragen, dieser Lärm.“ Aber auch: „Das verschimmelte Brot ist nicht mehr zu genießen, und der Wein ist sauer und kaum noch zu trinken. Kommt, wir gehen wieder! Tschüs, Ulf!“
● Für die Bürokraten unter uns: In diesem Sinne gibt es nicht nur die Kombi „Infinitiv + zu“, sondern auch „Partizip +zu“ (Partizip = vom Verb abgeleitetes „Mittelwort“): „die noch zu schreibende Klassenarbeit“ – „die zu lösende Mathe-Aufgabe“ – „die abzuarbeitende To-do-Liste“.3
● Manchmal steht der Infinitiv auch mit „um…zu“ und drückt dann einen Zweck aus: „trainieren, um fit zu bleiben“ – „Wir gehen in die Kneipe, um etwas zu trinken: vielleicht Kaffee, Wasser oder Bier“. Aber Verben mit „um…zu“ sind leicht zu erkennen und daher für die Rechtschreibung eher ungefährlich.
„zu“ als Verhältniswort (Präposition)
Die dritte Hauptgestalt, in der uns das kleine Wörtchen „zu“ begegnet, ist die Funktion von „zu“ als Präposition (Verhältniswort). Typische Präpositionen bezeichnen zum Beispiel Lage oder Richtung: „in, an, auf über unter, vor hinter nach“ aber auch andere Verhältnisse: „für, gegen, mit, ohne, um, seit, gegen“. Tückisch: Präpositionen stehen oft vor einem Substantiv (Hauptwort) oder seinem Stellvertreter, dem Pronomen/Fürwort (ich, du, er, sie, es…), aber eben nicht immer. „Normal“ wäre „nach der Schule gehen wir nach Hause“, aber es gibt eben auch den Fahrstuhl „nach oben“. Man kann „mit Freunden“ verreisen, aber auch „mit nichts“. Nicht immer schreibt man also nach Präpositionen groß. Aber unser Sprachgefühl bzw. unsere Erfahrung warnt: Präposition? Da kommt womöglich bald ein Substantiv/Hauptwort.
Richtig, Sophia, was hat das mit unserer Frage mit dem Trinken und mit dem Wort „zu“ zu tun? „Zu“ gibt es auch als Präposition. Als Richtungsangabe mit Substantiv, oft mit Namen, ist es unproblematisch: „Wir gehen zu Ulf zur Party, jedenfalls lieber als zur Schule.“ Wobei „zur“ und „zum“ Zusammenziehungen aus Präposition und Artikel sind: „zu der“ bzw. „zu dem“. Artikel (der, die, das usw.) sind bekanntlich Begleiter von Substantiven. „Zum“ und „zur“ und „zu den“ sind sichere Zeichen für: Achtung, hier folgt demnächst ein Substantiv. Und richtig, Sophia, Substantive schreibt man groß.
Allerdings gibt es die Präposition „zu“ nicht nur als Orts- bzw. Richtungsangabe wie in
● „zu Bett gehen“ – „zum Arzt bringen“ – „zu Füßen sitzen“ – „zu Boden stürzen“ – „zu Tisch bitten“.
● Manchmal bezeichnet die Präposition „zu“ auch eine Zeit: „zur Zeit“ – „zu Mittag“ oder „von Tag zu Tag“.
● Und manchmal auch eine Zustandsänderung: „zu Asche verbrennen“ – „zum Helden oder zum Verbrecher werden“.
● Und nur der Vollständigkeit halber zu erwähnen ist, dass „zu“ manchmal auch Zahlenverhältnisse bezeichnet – „2 zu 1 nach Verlängerung“ – oder der Anzahl dient: „Auch Kino ist zu zweit oder zu viert schöner als allein“.
● Oft bezeichnet „zu“ auch ein Ziel oder einen Zweck (Ulf, aufwachen!): „zum Beispiel“ – „zu ihren Gunsten“ – „zum Wohl!“ – „zu unserer vollsten Zufriedenheit“ – „zu Weihnachten“. Abwarten, Max, auf diese Funktion von „zu“ kommen wir gleich zurück. Sicher ahnst du es schon…
Die Sache mit der Substantivierung
Erstmal muss uns Sophia noch erklären, was eine Substantivierung ist. Sie sagt: Im Prinzip kann man aus jedem beliebigen Wort ein Substantiv/ Hauptwort machen. Einfach indem man ihm eine entsprechende Funktion im Satz und eine entsprechende Form gibt. Bei Verben entsteht dann oft ein besonderes Wort, indem man ein „-ung“ an den Wortstamm hängt: „Belohnung“, „Spülung“, „Begeisterung“ usw. Diese -ung-Wörter stammen alle von Verben ab. Aber kein Problem, das ist für die Rechtschreibung keine Herausforderung.
Oft bleibt die Grundform des Verbs auch, wie sie ist, und wird durch den Artikel „das“ substantiviert:4 „Nach 2 Stunden wird das Spielen langweilig“ – „Das Wandern ist des Müllers Lust“. Das geht auch mit anderen Wortarten, z.B. „Das ewige Hin und Her macht mich nervös“ – „das Gute siegt über das Böse“. Substantivierungen gibt es auch mit Präpositionen und (zusammengezogenem) Artikel: „im Grünen“ – „du störst beim Lernen“ – „Beim Essen sollten Kinder schweigen“.5
Und das gibt es auch auch mit der Präposition „zu“ (ja, Ulf, weißt du auch), gerne auch in einer Bedeutung, die einen Zweck bezeichnet:
● „Wasser ist zum Waschen da“ – „Ich brauche etwas zum Anziehen“ – „Papier zum Schreiben“ Und eben auch, trara!: „Wir müssen etwas zum Essen einkaufen und wir brauchen Blubberlutsch zum Trinken“.6
Der entscheidende Unterschied
Der kleine Schelm „zu“ sagt uns nicht, ob er gerade als Konjunktion (Verbindungswort in der Kombi „Infinitiv mit zu“) oder als Präposition (Verhältniswort) unterwegs ist. Aber in diesem Fall verrät er sich:
● „zu“+Grundform/Infinitiv vom Verb ohne Artikel heißt: Hier handelt es sich um die Konjunktion „zu“, folglich wird das Verb kleingeschrieben.
● „zum“, das heißt „zu“+„dem“ (=Artikel) plus Grundform vom Verb heißt: das Verb wurde substantiviert und wird daher großgeschrieben.
Wir haben somit ein auf den ersten Blick merkwürdiges, aber grammatisch logisches und eindeutiges Ergebnis. Inhaltlich geht es einher mit leichter Bedeutungs-Verschiebung:
● „Wir kaufen oder haben etwas zu essen und etwas zu trinken.“ (Bedeutung hier etwas mehr in Richtung von „möglich“: was wir essen und trinken können).
● Aber: „Wir kaufen oder haben etwas zum Essen und etwas zum Trinken.“ (Bedeutung hier etwas mehr in Richtung des Zwecks: damit wir essen und trinken können).
Das angekoppelte „-m“ als Rest vom Artikel „dem“ hat dich verraten, kleiner Schlingel!
Übrigens kommt hier nur „-m“ bzw. das Wort „zum“ in Frage, weil die Präposition „zu“ immer den Dativ nach sich zieht, und der Dativ vom Artikel „das“ ist nun einmal „dem“.
● Allerdings kann „dem“ in der Zusammenziehung „zum“ auch mal durch ein ergänzendes Pronomen (besitzanzeigendes oder hinweisendes Fürwort) ersetzt werden, so wird z.B. „zum Vergnügen“ → „zu meinem Vergnügen“; „zum Essen einladen“ → „zu unserem Essen einladen“. „Zum Erstaunen des Publikums“ → „zu unserem großen Erstaunen“ oder gar „zu unser aller Erstaunen“ oder auch „zum Zweck“ → „zu diesem besonderen Zweck“.
Die Regel noch kürzer lautet: „zu“ ohne alles + Infinitiv heißt: Kleinschreibung, auch wenn es fast so wie „zum“+Infinitiv aussieht und fast dasselbe bedeutet.
Kleine Fallen
„etwas“
Sophia ist zufrieden: Es geht um die Substantivierung, klar. Max ist noch unzufrieden. Er hat Beispiele im Kopf, die in die dargestellte Doppelrolle von „zu“ vielleicht nicht ganz reinpassen. Zum Beispiel verunsichert ihn das Wort „etwas“. Er hat mal gelernt, dass „etwas“ ein Wort zu einem Substantiv machen kann. Das stimmt, Max, aber dabei geht es nicht um Verben, sondern um Adjektive (Eigenschaftswörter): Aus „gut“, „schlecht“, „groß“, „schwierig“ usw. werden Substantive in Kombination mit „etwas“, „nichts“ und „alles“:7
● „alles Gute zum Geburtstag“ – „Über Verstorbene soll man nichts Schlechtes sagen“ – „Wer will nicht etwas Großes vollbringen und alles Schwierige überwinden“ usw.
In unserem Beispiel mit dem Trinken aber steht „etwas“ nicht mit einem (dann substantivierten) Adjektiv zusammen, sondern allein mit dem Verb. Anders herum: dem Verb ist das Wort „etwas“ in Bezug auf Substantivierung schnurz-piep-egal. Okay, wenn „etwas“ hier unbedingt seine Substantivierung kriegen soll, könnte man sagen: „Wir möchten etwas Kaltes zu trinken.“ Substantiviert wurde „Kaltes“. Übrigens können die Wörter „etwas“, „alles“, und „nichts“ auch wunderbar allein stehen, ohne ein substantiviertes Adjektiv im Schlepptau zu haben.
Bitte einmal „Substantivierung“ ohne alles
Aber jenseits von „zu“ hält das Problem „substantivierter Infinitiv“ immer noch eine Gemeinheit bereit: Es gibt auch Sätze, wo der Infinitiv ohne „zu“, ohne „das“ bzw. ohne „-m“ und ohne andere Anzeichen daherkommt, aber er riecht dennoch mit seiner Stellung und Funktion im Satz nach Substantivierung: „Parken verboten!“ Okay, am Satzanfang schreibt man sowieso groß, Glück gehabt! Aber
● „Hier ist Parken verboten!“ Oder „Hier ist parken verboten“?
Warum riecht es nach Substantivierung? Weil es ohne das Wort „Parken“ kein Subjekt (Satzgegenstand) im Satz gäbe.8 Oder mit den Worten aus der Frage-Technik in der Grundschule: Es gäbe ohne „Parken“ im Satz keine Antwort auf die Frage „Wer oder was ist verboten?“ Und Satz-Subjekte sind erfahrungsgemäß gerne Substantive / Hauptwörter. 9 Und ohne Subjekt – sei es nun Hauptwort/Substantiv oder Fürwort/Pronomen – ist ein Satz so unvollständig wie ein Krimi ohne Täter.
Ist hier beim Parkverbot also das Verb substantiviert oder nicht? Man kann die Probe machen, indem man gedanklich vor „parken“ „das“ oder „zu“ setzt und guckt, wie sich das anhört. Richtig Ulf, hast du ja gleich gesagt, es geht beides:
● „Hier ist (das) Parken verboten“ oder auch „Hier ist (zu) parken verboten.“
Die meisten, vor allem Polizisten, werden „Parken“ hier groß schreiben: klares Subjekt im Satz, klare Ansage. Muss man aber nicht.
● Anderes Beispiel: „Im Abi ist Schummeln gefährlich“ oder auch “Im Abi ist schummeln gefährlich.“
Dieselbe Problemstellung: „Schummeln“ ist das einzige mögliche Satz-Subjekt weit und breit.
Der Trick in beiden Fällen: Das Subjekt eines Satzes kann auch aus einem Nebensatz oder einem Nebensatz-wertigen Teilsatz bestehen. Beispiele: „Was ich nicht weiß [= Nebensatz als Subjekt-Ersatz für den folgenden Satz], macht mich nicht heiß“ oder „Die Mathe-Arbeit zu schwänzen [=Subjekt-Ersatz] ist keine Option“.
Sophia sagt, in solchen Fällen wie „Parken verboten“ wäre sie für Substantivierung, also Großschreibung. Ein eindeutiges Subjekt macht den Satz klar. Max meint, er wäre eher für die Infinitiv-Auffassung, auch wenn sie ungewöhnlicher ist. Einfach, weil er es kann! Weil er jetzt nämlich die Regel kennt! Ulf fängt an zu gähnen. Er sagt, dass ihn diese ganze Regelklopperei halt zum Gähnen bringt. Es reicht doch, verstanden zu werden. Dazu ist es vollkommen unnötig, alle Regeln mit Vor- und Familiennamen zu benennen. Es genügt, sie einfach anzuwenden. Zum Anwenden braucht man kein Grammatik-Wissen; es ist ausreichend, einfach so zu sprechen wie alle anderen auch. Da gebe es gar nichts zu grinsen. Sophia und Max finden, dass Ulf ziemlich virtuos mit dem Wörtchen „zu“ umzugehen weiß.
Anhang: Über Grammatik und Rechtschreibung
Ist Rechtschreibung noch wichtig?
Ulf, du hast Recht: Alles gut zu wissen, aber alles nicht lebenswichtig. Irgendwie lernen alle Kinder ihre Muttersprache: nicht nur tausende von Wortbedeutungen, sondern auch all die komplizierten Regeln ihrer Formen und Verknüpfungen zu Sätzen. Sie können die Regeln nicht benennen, aber sie wenden sie an, indem sie z.B. richtiges Deutsch sprechen. Sie lernen diese grammatischen Regeln durch zahllose Beispiele, immer wieder durch Vergleiche, Analogiebildungen und durch immer feinere Unterscheidungen. Wie weit das geht, hängt natürlich stark davon ab, wer was wieviel mit ihnen redet. Jedenfalls ist für viele Wissenschaftler der Erstspracherwerb die größte intellektuelle Leistung, die ein Mensch im Laufe seines Lebens vollbringt.
Bei der Rechtschreibung aber unterscheiden sich die Lernbedingungen wesentlich krasser: Bürgerkinder hatten und haben noch immer zu Hause Bücher zum Lesen. Aus ihnen konnten sie, Beispiel für Beispiel, die Regeln der Rechtschreibung genauso intuitiv aufnehmen wie die richtigen grammatischen Formen. Sie bekamen ein Gefühl dafür, was „richtig geschrieben“ aussah und was nicht. Kinder ohne häusliche Lese-Erfahrung hatten und haben dieses Training vom Start weg viel weniger. Sie müssen tatsächlich viel mehr versuchen, all diese komplizierten Regeln samt Ausnahmen zu lernen und anzuwenden. Das ist ein dickes Brett. Daher galt oder gilt Rechtschreibung, insbesondere Groß- und Kleinschreibung, von jeher als riesige soziale Sortieranlage. Schlechte Beherrschung der Rechtschreibung ließ „schlechtere“ Herkunft vermuten und führte zu schlechteren Chancen in Schule und Karriere.
Viele Reformer haben versucht, zumindest die soziale Hürde der Groß- und Kleinschreibung niederzureißen. Sie schlugen vor, wie in anderen kulturtragenden europäischen Sprachen auch, nur noch Satzanfänge und Namen groß zu schreiben. Das aber war und ist den Hütern der Sprache noch immer viel zu radikal. Man darf sich fragen, warum. Immerhin hat das Internet da mit seiner Internationalisierung, mit seinen unzähligen Gebrauchstexten und Schreibanlässen für jedermann*frau und nicht zuletzt mit seinen Schreibhilfen eine große Möglichkeit zur Demokratisierung der Chancen eröffnet, jedenfalls auf dem Gebiet der Schriftsprache.10
Was bleibt:
● Nutze das Internet, nutze die Rechtschreibprüfung deines PC,11 aber misstraue ihr: Die automatische Korrektur meint zu wissen, was du schreiben willst, nämlich das, was alle anderen auch so schreiben.12 Also stelle die Automatik ab und bewahre deine Eigenständigkeit ebenso wie dein Selbstvertrauen: Rechtschreibung ist nützlich, aber sie ist nicht alles. Nutze die durch elektronische Hilfen zu gewinnende Zeit lieber zum Lesen und Nachdenken.
Wieviel Grammatik braucht der Mensch?
Okay, Ulf, zurück zur übergreifenden Frage: Ist Grammatik überhaupt notwendig, wo schon das Wort bei vielen gesträubte Nackenhaare erzeugt?13
Zunächst einmal, Ulf, du hast ja Recht, man kann grammatische Regeln anwenden und wird verstanden, auch ohne die Regeln benennen zu können. Allerdings hilft der Vergleich mit den eigenen grammatischen Regeln ein wenig, eine Fremdsprache zu erlernen. Oder man muss halt auch diese lernen, ohne deren Regeln zu kennen: durch stumpfsinnige Wiederholung von Wendungen (pattern drill) wie ein Papagei. Das mag nicht jede*r.
Wieviel Grammatik braucht eine Sprache? Immerhin kann man durch (unbewusste) Verknüpfungsregeln (Grammatik) mit einer letztlich begrenzten Zahl von Wörtern unendlich vieles und ziemlich Kompliziertes ausdrücken. Nicht-Muttersprachlern zuzuhören, die zwar die Wörter, aber nicht die „Regeln“ ihres Zusammenbaus kennen, kann ziemlich anstrengend sein. Man schwimmt und fragt sich mehr als sonst: Was genau meint er oder sie jetzt?
Die Entwicklung der Sprache von ihren Ursprüngen mit einzelnen Lauten, zum Beispiel für „wilde Tiere“ oder „eideidei“, zu unseren heutigen strukturierten Sätzen lassen wir mal außen vor (ist aber ein interessantes Thema).14 Einige Sprachen brauchen mehr Grammatik, andere weniger: Im Englischen muss man mit den Zeiten sehr viel genauer sein als im Deutschen, auch mit der Reihenfolge der Satzglieder. Dafür gibt es im Deutschen mehr grammatische Endungen, die z.B. Deutsch lernende Englischsprachler in den Wahnsinn treiben können.15
Brasilianisch wurde im Vergleich zu seiner Stammsprache Portugiesisch extra arm an grammatischen Formen gehalten. Das geschah mit Absicht: Die Sklaven und Kolonisierten sollten nicht zu viel Kompliziertes verstehen und ausdrücken können, aber man wollte ihnen natürlich trotzdem befehlen können. Allmählich verbreitete sich diese Grammatik-arme Sprache, die z.B. keine Verbformen kennt, dann in allen Schichten der Gesellschaft als Umgangssprache.
In vielen asiatischen Sprachen werden Bezüge zwischen den Bedeutungs-Zeichen der (chinesischen) Schrift, auch die Zeiten, eher durch ergänzende Wörter und die Reihenfolge der Elemente geklärt. Und z.B. im Vietnamesischen gilt es als literarisch gehoben und genussvoll, wenn in einem Roman die zeitliche Abfolge der Handlung ein wenig unklar bleibt wie in lauter unerklärten Vor- und Rückblenden eines kunstvollen Spielfilms: Wichtig sei doch der gedankliche innere Zusammenhang, nicht die profane äußere Zeit.
Wieviel Grammatik brauchen wir? Machen wir die Probe. Bilden wir einen Beispielsatz einmal mit und einmal ohne grammatische Bezüge (wozu auch im Deutschen bedingt die Wortreihenfolge gehört):
„Morgens auf dem Weg zur Schule kann ich nicht aufhören an dich zu denken.“
Ohne Grammatik könnte das etwa so aussehen:
„Nicht Morgen Schule Weg ich du denken aufhören können.“
Die erste Version wäre nach der Theorie von Chomsky „anschlussfähig“, d.h. jemand könnte darauf kommunikativ irgendwie reagieren. Zum Beispiel mit „Mir geht es genauso.“ Die Version ohne Grammatik bietet dazu kaum eine Chance. Da sind sich Ulf, Sophia und Max einig. Sie beschließen, sich zusammen irgendwo noch etwas zu trinken zu besorgen.
Anmerkungen
Die User-Anfrage lautet wörtlich: Etwas zu Trinken oder etwas zu trinken?
- Wie die Sprache in ihrer Entwicklung grammatische Strukturen entwickelt hat (genauer: wie die Menschen als Sprachnutzer nicht nur Wortbedeutungen, sondern Grammatik hervorgebracht haben), ist ein anderes, interessantes Thema. Literaturempfehlung: Guy Deutscher, Du Jane, ich Goethe.
- Oft ist „zu“ hier ein Teil von so genannten „unfest zusammengefügten Verben“: Diese bilden im Infinitiv (und im Nebensatz) ein Wort („zumachen“ – „zuschließen“,“ – „zugeben“ – „zuschütten“), aber im Hauptsatz , als Hauptverb mit grammatischer Form (=konjugiert) werden daraus zwei Wörter („Mach die Tür zu„ – „Ich schließe die Kellertür immer zu.“ – „Er gab seinen Fehler schließlich zu.“ – „Anschließend schüttete der Bagger die Grube wieder zu.“). Solche unfest zusammengefügten Verben gibt es übrigens auch mit anderen typischen Vorsilben („aufmachen“ – „eintragen“ – „beifügen“ – „abmachen“ – „mitkommen“), aber das würde jetzt wirklich zu weit führen.
- Derartige Formulierungen sind für Nicht-Bürokraten allerdings stilistisch eher fragwürdig.
- Natürlich kann man auch mit dem unbestimmten Artikel (ein, eine usw.) substantivieren, z.B. „Bei ihrem Aufritt ging ein Raunen durch den Saal“ – „Das kostet mich ein Lächeln“ – „Es war ein einziges Kommen und Gehen auf Ulfs Party.“ Aber das würde jetzt zu weit vom Thema wegführen.
- Beispielsätze zur Grammatik sind bekanntlich häufig inhaltlich extrem bescheuert.
- „Blubberlutsch“ entstammt der Feder von Dr. Erika Fuchs, der ersten, großartigen Übersetzerin der Walt-Disney-Comics von Donald Duck ins Deutsche. „Blubberlutsch“ ist das Lieblingsgetränk der Neffen Tick, Trick und Track.
- Der Vollständigkeit halber: Zu diesen möglichen „Substantivierern“ von Adjektiven zählen auch noch die anderen unbestimmten Zahlwörter (=Numeralien) „viel“ und „wenig“: z.B. „Vom neuen Bürgermeister hört man viel Gutes und wenig Schlechtes.“
- Mit den Begriffen Subjekt, Objekt, Prädikat, Nebensatz usw. befinden wir uns jetzt in der Satzlehre (=Bauprinzipien des Satzes mit seinen Bestandteilen). Die Begriffe Substantiv, Pronomen, Adjektiv, Präposition, Zahlwort usw. bezeichnen verschiedene Wortarten.
- Wenn das Subjekt-Substantiv nicht gerade durch Pronomen (= Fürwörter) wie ich, du, er sie es...oder auch dieses usw. ersetzt ist, aber das ist in unserem Park-Beispiel ja gerade nicht der Fall.
- Jedenfalls so lange die schriftliche Darstellung dort nicht durch Video-Filmchen und laberige Podcasts verdrängt worden ist. Schätzungen besagen, dass im Internet ca. 1,8 Milliarden Nutzer Beiträge erstellen, welcher Qualität auch immer.
- Lehrpersonal und Sprachinteressierte sollten erwägen, sich mal zu Weihnachten ein gutes Wörterbuch schenken zu lassen, statt Zeit mit halbgaren Internet-Einträgen zu vergeuden. Neben dem Duden etwa den „Wahrig“ (mein Favorit, auch zur Perfektionierung von Deutsch als Fremdsprache) oder, literarischer ausgerichtet, den „Pekrun“.
- Zu Verlässlichkeit und Funktionsweise von Sprach-KI bzw. Chatbots findest du hier bei Cosmiq mehrere Artikel, am umfassendsten vielleicht diesen.
- Das Wort „Grammatik“ stinkt nach Schule, nach Lernzwang und nach Angst vor Beurteilung und Versagen. Dafür kann unser Schulsystem viel, die Sprache selbst wenig. Die traditionelle Lernzielbegründung seit den 1970er Jahren geht ungefähr so: Grammatisches Wissen sei Teil der sprachlichen Fähigkeiten, also der Kommunikationsfähigkeit. Kommunikationsfähigkeit wiederum bildet einen wesentlichen Teil der sozialen Kompetenz. Ergo steigert Grammatik, z.B. in Form der richtigen Benennung der Satzglieder, die soziale Kompetenz, q.e.d. Darauf muss man erstmal kommen! In der Wirklichkeit des Schulalltags bietet der Stoff Grammatik vor allem Abfragewissen (etwa im Gegensatz zur Beschäftigung mit Literatur) und ist damit für Tests, „objektive“ Leistungsbeurteilung, Zensurengebung und damit schulische Selektion (Stichwort Numerus Clausus) gut handhabbar. Eine Zeitlang waren Lehrer und Schulbücher auch so irre, (in der Unterstufe!) verschiedene Grammatiken/ Regelsysteme nebeneinander zu unterrichten: Neben der gängigen lateinbasierten Grammatik etwa die „Valenzgrammatik“, die angebliche „Generative Transformationsgrammatik“ (das mit den Bäumchen) usw., die dann ein und dasselbe Wort in einem Satz mit verschiedenen grammatischen Begriffen belegten – eine ziemlich zuverlässige Methode, um Schüler*innen in Verwirrung und demütige Verzweiflung zu stürzen.
- Grammatische Regeln sind so kompliziert, weil sie historisch in einer Sprachgemeinschaft gewachsen sind. Durch den Gebrauch der Sprache werden sie durch die Sprachnutzer immer wieder unbewusst reproduziert oder eben auch durch Analogien im Einzelfall verändert. Grammatik ist nicht am Schreibtisch oder als Programmierung entstanden, sondern im täglichen Gewühl des Sprachgebrauchs aus zahllosen, mehr oder weniger einleuchtenden, unbewussten Analogie-Vorstellungen. Nach einer Faustformel sind die grammatischen Regeln und Sonderformen einer Sprache umso vielfältiger, je kleiner eine Sprachgemeinschaft ist. Anders herum: Je größer die Gemeinde der Sprachbenutzer, desto mehr werden grammatische Nebenregeln „eingeebnet“, durch wenige Hauptregeln der Verknüpfung ersetzt. Hinzu kommt, dass das bei uns vorherrschende Beschreibungssystem aus dem Lateinischen stammt und die Konstruktionsprinzipien des Deutschen nur unzureichend beschreibt. Kurz: Die real existierenden Regeln einer lebendigen Sprache sind kompliziert; die Regeln von Pokémon GO oder etwa Mau-Mau sind, zugegeben, einfacher. Aber nicht jede*r empfindet bei der Erforschung der Welt Mau-Mau als ausreichend interessant und intellektuell befriedigend. Jenseits der Schule sind Grammatiken wissenschaftliche Theorien wie andere auch: Sie versuchen, einen definierten Ausschnitt der Wirklichkeit mit großer Varianz an Erscheinungen – hier: die menschliche Sprache – mittels einer begrenzten Anzahl von Definitionen und Verknüpfungsregeln angemessen und widerspruchsfrei zu beschreiben und in seinen Zusammenhängen zu erklären. Das kann eine spannende Sache sein. Das gilt auch für einen Vergleich der verschiedenen theoretischen Ansätze bzw. Grammatik-Modelle im Hinblick auf ihre Erklärungs- und Anwendungsfähigkeit – aktuell mit Blick auf die Funktionsweise von Sprach-KI, so genannten Chatbots, wie ChatGPT und seinen Mitbewerbern, die sich letztlich alle auf systematische Sprachbeschreibungen gründen.
- Mark Twain, Autor von „Tom Sawyer“, der viele deutsche Kontakte hatte, spottete in „Die Schrecken der deutschen Sprache“: „My good old friend“ ist im Deutschen „mein guter alter Freund“, manchmal auch „meinen guten alten Freund“, manchmal aber auch „meinem guten alten Freund“ oder auch „meines guten alten Freundes“. Am besten hat man überhaupt keine deutschen Freunde.