Was ist ein Maurer-Dekolleté und woher kommt die Bezeichnung?
Ursprünglich ist das Maurerdekolleté das Gegenteil eines Dekolletés, und zwar in jeder Hinsicht. Das Dekolleté, der tiefe Ausschnitt einer Damenbekleidung, verspricht Schönheit und verhaltene Erotik. Das Maurerdekolleté will eigentlich niemand sehen. Wie die Berufsbezeichnung Maurer verrät, ist es ursprünglich bei diesem zu verorten. Allerdings sitzt es genau auf der dem Dekolleté gegenüberliegenden Seite, nämlich oben am Gesäß. Während das Dekolleté freiwillig ein Stück weit weiblichen Reiz enthüllt, geschah die Entblößung des Gesäßansatzes ursprünglich unfreiwillig, zumindest ungewollt. Und auch der Blick, der darauf fiel, war eher ungewollt und wendete sich meist abgestoßen schnell wieder ab. Beide Varianten von Dekolleté sind untrennbar mit unseren Vorstellungen von schön und hässlich, von Erotik und nicht zuletzt von Vorurteilen verbunden. Aber geschichtlich hat sich in der Anschauung des Dekolletés und mehr noch des Maurerdekolletés einiges geändert.
Inhalsverzeichnis
Maurerdekolleté als unerotisches Gegenteil des Dekolletés
Unter dem Blickwinkel der Erotik ist das besondere am Dekolleté, dass es möglicherweise einen besonderen Ausblick auf den Ansatz des weiblichen Busens zeigt, und zwar in Form eines beginnenden senkrechten Spalts zwischen den Brüsten, der sich verheißungsvoll verhüllt im Kleid fortzusetzen verspricht.
Auch hier steht das Maurerdekolleté ursprünglich für das Gegenteil. Es kommt dadurch zustande, dass der Maurer sich bei seiner Berufsausübung oft bücken musste. Dabei kann es schon einmal vorkommen, dass rückwärtig sein Hosenbund nach unten rutscht und so dem Blick ebenfalls den Ansatz eines senkrechten Spalts freigibt. Der markiert hier allerdings den Beginn der Gesäßbacken, dessen Fortsetzung zum Glück dann doch durch die Hose verborgen bleibt. Denn dieses Maurerdekolleté gilt gemeinhin alles andere als sexy, sogar als abstoßend, zumal für das andere Geschlecht.
Erotik und Vorurteil
Ob das Dekolleté tatsächlich eine dem Betrachter angenehme, etwa gar dezent erotische Wirkung ausübt, hängt natürlich von vielen Umständen ab. Nicht nur davon, inwieweit und wie sich der Betrachter durch den Anblick weiter anregen lassen will, sondern auch davon, inwieweit die Trägerin dem herrschenden Schönheitsideal in Alter und körperlicher Ausprägung nachkommt. Entspricht sie beispielsweise dem Ideal der Renaissance, wie es etwa in Botticellis Gemälde Geburt der Venus zu sehen ist, oder gar dem einer Tänzerin im Ballett, dürfte sich jener Spalt eventuell gar nicht ergeben. Andererseits gilt eine ausladende Oberweite immer wieder in der Geschichte auch als allzu vulgär.1
Auch wenn in beiden Fällen ihre Trägerinnen nichts dafür können, dass sie gerade nicht dem aktuellen Schönheitsdiktat entsprechen, bietet jede Abweichung von der Norm des idealen Körperindex‘ flugs Anlass für Diskriminierung. Insofern birgt das Dekolleté für seine Trägerin nicht nur mögliche Freiheit in der Erscheinung, sondern auch Unterwerfung unter fremdgesteuerte Maßstäbe.2
Das Maurerdekolleté startet in erotischer Hinsicht sozusagen von der entgegengesetzten Seite. Es wird einem eher „niedrigen“ Handwerksberuf, dem Maurer, zugeschrieben, obwohl natürlich auch andere Männer sich berufsbedingt oft bücken mussten, zum Beispiel bei der Feldarbeit, aber auch beim Verlegen von Parkett oder gar dem Anschließen des Präsentations-Beamers. Dabei galt der Maurer mit seiner staubig-schmutzigen Tätigkeit als eher grobschlächtig, vom Umgang mit Steinen stark, aber nicht sehr feinsinnig oder sonderlich lösungskreativ. In der ironischen Bezeichnung Maurerdekolleté steckt also ein Gutteil Diskriminierung: des Berufsstandes und seines Trägers, der mit dem Beruf und mit der Vulgarität seiner Erscheinung abwertend gekennzeichnet wird.
Geschichtliche Entwicklung: Neue Ansichten für das Maurerdekolleté
Die Demokratisierung des Dekolletés
In der Geschichte starten Maurerdekolleté und Dekolleté aus sozial unterschiedlichen Ecken. In der Ständegesellschaft etwa des ausgehenden Mittelalters war ein tiefer Kleiderausschnitt den adligen Damen vorbehalten, bei Hofe oft vorgeschrieben. Hingegen bedeckten verheiratete Frauen nichtadeligen Standes gemeinhin ihren Halsansatz mit einem Brusttuch oder „Brustschleier“. Dieser verbarg häufig auch den gesamten Kopf samt Haaransatz, ähnlich dem islamischen Hijab.3 Im Zuge der Französischen Revolution dann wurden fließende Gewänder mit weiten Ausschnitten auch für bürgerliche Frauen unanstößig und modern. Im 19. Jahrhundert kam das Wort Dekolleté aus dem Französischen auch ins Deutsche.4 Allerdings wurde derlei „Offenherzigkeit“ analog zu Phasen politischer Reaktion im 19. und 20. Jahrhundert immer wieder durch streng „zugeknöpfte“ Mode verdrängt.5
Die Befreiung des Maurerdekolletés
Baggy Pants mit Dekolleté
Das ironisch gemeinte Maurerdekolleté hat keine so lange Geschichte. Aber auch hier hat sich in den letzten Jahrzehnten etwas getan. Spätestens mit der Verbreitung der Baggy-Hosen seit Ende der 1990er ist das Maurerdekolleté auch für Nicht-Handwerker im Alltag möglich. Und es gilt spätestens seit den 2000er-Jahren keineswegs mehr durchweg als peinlich. Die extrem weiten und tief sitzenden Baggy-Pants sollen ihren Ursprung in US-Gefängnissen haben. Auch in US-Strafanstalten wird den Strafgefangenen sofort bei Einlieferung der Gürtel abgenommen, damit sie ihn nicht zum Selbstmord oder als Waffe einsetzen können. Die großen Taschen waren nützlich, wenn man wichtige Dinge wie Werkzeuge lieber am Mann trug, statt sie sich klauen zu lassen. Vielleicht wurde zu große, „unelegante“ Kleidung gerade jugendlichen Delinquenten aber auch einfach verpasst.6 Solche Hosen wurden dann auch nach Verbüßung der Haft stolz getragen. Sie waren ein Signal, zu den ganz harten Jungs zu gehören. Über den Gangsta-Rap fanden die Baggy-Pants Verbreitung in der Hip-Hop- und Skater-Szene mit ihrer Suche nach unkonventionellen musikalischen und körperlichen Ausdrucksformen.
Auch als Provokation gegen eine ansonsten nervig toleranter gewordene Elterngeneration eignete sich dieser Look. Zur Wirksamkeit der Baggy gehörte nicht nur ihre „Unförmigkeit“. Als „schockierend“ musste sie auch deutlich „zu tief“ sitzen – jedenfalls wenn ihr Träger als wirklich cool gelten wollte. Im radikaleren Fall zeigte man also mit dem permanent freigelegten Maurer-Dekolleté seiner Mitwelt nicht den Mittelfinger, sondern gar verächtlich und provokant die halbnackte Gesäß-Kehrseite. Daher ist das öffentliche Tragen von Baggy Pants mit Maurer-Dekolleté in den USA stellenweise sogar bei Strafe verboten.7
Aber mit den Jahren wurden auch die Baggy-Pants vorherrschend als Baggy-Jeans von der Musik- und Mode-Industrie für die Zielgruppen aller Geschlechter vereinnahmt und als periodisch wiederkehrender Modetrend gezähmt. Der Kauf einer solchen Hose verspricht risikolose, trendangepasste „Unangepassheit“: „locker und chillig“, wie die Werbung verkündet.8
Maurerdekolleté als Tattoo-Schaufenster
Aber auch bei einem anderen Modetrend kommt das – nunmehr gewollte – Maurerdekolleté zum Einsatz, nämlich bei Tattoos. Sie galten früher als sicheres Zeichen für eine Stellung jenseits der Gesellschaft, getragen von Seeleuten und Knackies. Das änderte sich in den letzten Jahrzehnten radikal: Tattoos werden zunehmend gesellschaftsfähig, sogar in vielen Dienstleistungsberufen. Und auch ihre künstlerische Vielfalt geht schon lange weit hinaus über die einstig obligatorischen Anker und absolut kragenlose Seejungfrauen. Dazu gehört seit den 1990ern auch eine Phantasie-Ornamentik. Im Volksmund unter der Bezeichnung „Arschgeweih“ bekannt,9 breitet sich das fälschlich „Tribal“ genannte Tattoo vom Steißbein ausgehend zum unteren Rücken aus. Will man ein solches Tattoo nicht nur am Strand gebührend zur Geltung bringen, muss man den Blick darauf ermöglichen, also ein Maurerdekolleté zulassen.
Maurerdekolleté für alle oder keinen!
In seiner geächteten Form war das Maurerdekolleté Männern vorbehalten. Aber schon längst ist das Maurerdekolleté auch weiblich geworden. Denn spätestens seit auch weibliche Hip-Hop-Stars wie TLC die Baggy-Pants populär machten, wurden diese Kleidungsstücke auch bei jungen Frauen beliebt. Und nicht nur das: Analog zum gezähmt neckischen „Boxer-Shorts-Blitzer“ etwa bei modischen Möchtegern-Skatern erleichtert die Baggy gar einen „String-Tanga-Blitzer“, wenn der Trägerin das dann nicht doch zu vulgär ist. Jenes vieldiskutierte „Arschgeweih“ wird sogar überwiegend von Frauen getragen. Auch zu dessen Präsentation dient ein Maurerdekolleté. Allerdings argwöhnt man bei den Trägerinnen jener Tattoo-Form pauschal einen moralisch fragwürdigen Lebenswandel, etwa wie dereinst bei den Bürgerfrauen, die sich ohne Brusttuch, gar mit Dekolleté-Ansatz zu zeigen wagten.10
Mittlerweile darf man auch gar das männliche Gesäß erotisch nennen. Daraus ergäbe sich die Chance, auch dessen Maurerdekolleté aus der negativ besetzten, diskriminierenden Ecke herauszuholen: als gelassen hingenommene Unabsichtlichkeit oder gar als gewollten erotischen Zwinkerer oder/und als dezenten Gesinnungs-Wink.11
Der Beruf des namensgebenden Maurers selbst unterliegt ebenfalls starkem Wandel. Das ist nicht zuletzt zunehmender industrieller Fertigbau-Techniken und dem Beton geschuldet. Mittlerweile gibt es viele Maurer, die außerhalb ihrer Lehre nie wirklich Stein auf Stein gemauert haben. Sie müssen sich höchstens noch bücken, wenn ihnen die optische Wasserwaage oder der Controller für den Kran aus der Hand gefallen ist. Wie in vielen anderen Handwerksberufen auch, dürften die Maurer bald zu raren, begehrten und geachteten Leistungsträgern werden. Und vielleicht, in einer nicht allzu fernen Zeit, wird ihre Diskriminierung durch einen Begriff wie Maurerdekolleté ihren Zeitgenoss*innen völlig unerklärlich sein.
Anmerkungen und Erläuterungen
Die User-Anfrage zu diesem Beitrag lautet wörtlich: Was ist ein Mauer Dekollet?
- In Hollywood, besonders in den Disney-Produktionen, war eine üppigere Oberweite den erotisch „gefährlicheren“ Frauen vorbehalten. Für Mütter oder gar Kindermädchen war sie dagegen ein No-Go. Die Rollen wurden entsprechend besetzt; gegebenenfalls wurden die natürlichen Körpermaße zeit- und normgemäß retuschiert. Die Filmindustrie hat also körperliche Merkmale pauschal mit charakterlichen Eigenschaften gleichgestellt. Das nennt sich Diskriminierung. Auch die Filmindustrie festigt damit das Klischee und Vorurteil bei den Frauenbildern. Frauen mit bestimmter Körperlichkeit müssen von vornherein gegen Vorurteile ankämpfen.
- Während die Forderung nach einem „gefälligen“ Dekolleté etwa bei weiblicher Bedienung auf dem Oktoberfest noch in den 1980er Jahren Gegenstand arbeitsrechtlicher Auseinandersetzungen war, ist so etwas für den Hosenschnitt von männlichen Maurern nicht überliefert. Für eine Dekolleté-gerechtes Styling, etwa anlässlich des Oktoberfests mit Dirndl-Vorführung, gibt es im Netz unzählige Tipps, etwaige Abweichungen von der unbezweifelten Norm zu kaschieren. Für eine Präsentation des (männlichen) Maurerdekolletés steht so etwas bislang noch aus.
- In nichtadeligen Ständen vorherrschend waren Brustschleier oder Brusttuch, französisch Guimpe, samt Kopfbedeckung. Dies traf zumindest zeitlich und örtlich überwiegend in den zentraleuropäischen Staaten zu. [Genaueres dazu mit Abbildungen bei Wikipedia]. Diese Art der Bedeckung ist uns auch aus vielen historischen Märchen-Illustrationen bekannt, etwa bei Rotkäppchens Großmutter bzw. dem Wolf in deren Bett. In Unter- und Mittelschicht gab es seit dem 17. Jh. daneben auch das gefaltete Brusttuch oder Fichu, das dann bis heute in vielen Trachten übernommen wurde.
- Das französische Wort decolleté ist das aus collet=Halskragen abgeleitete Partizip, wörtlich übersetzt also so etwas wie „entkragent“, also kragenlos, ohne Halskragen. Eingedeutscht wird es auch Dekolletee geschrieben. Die Schreibweise scheint immer noch schwierig, wie die Anfrage des Users zu diesem Artikel beweist. Sie ist, wie immer, im Link unseres Artikels buchstabengetreu übernommen.
- Ausführlicher zur an der frei atmenden, „fließenden“ griechischen Klassik orientierten Mode um die Revolutionszeit siehe hier, zur nachfolgenden politischen Restauration mit vorherrschend hochgeschlossener Kleidung siehe hier.
- Die Vermutung der „kriminellen Karriere“ der Baggy Pants stammt aus Wikipedia (in vielen Web-Artikeln ohne Quellenangabe plagiiert und damit als Fakt verfestigt). Die Herkunft ist plausibel, das Narrativ im einzelnen samt der Schilderung ihrer Vorteile im Knast-Alltag jedoch nicht ganz glaubwürdig. Sie unterstellt nämlich, dass man sich bei der Einlieferung in das Gefängnis seine Kleidergröße oder gar den Schnitt hätte aussuchen können. Im Gefängnis spielt Kleidung eine überraschend große Rolle. Sie dient, mehr noch als „draußen“, der Wahrung eines Restes von Identität und Selbstbewusstsein, gerade gegen die Uniformierung und Ent-Individualisierung im Vollzugsalltag. Denn der ist auf Anpassung und Unterordnung ausgelegt. Dagegen muss die Kleidung für den Häftling nicht nur sauber und möglichst „elegant“ sein. Zwecks Individualität kann es auch z.B. darauf ankommen, die Ergebnisse des Krafttrainings besonders zur Geltung zu bringen oder auch den Kragen genau in einer bestimmten Weise zu falten, um Besonderheit und Zugehörigkeit zu signalisieren. Der Spielraum bei der Gestaltung der Anstaltskleidung ist mancherorts ständiges Konfliktpotenzial zwischen Wachpersonal und Insassen. Vor diesem Hintergrund kann die Zuteilung von zu großer Kleidung auch ein Mittel der Schikane sein, um Macht zu demonstrieren und Einpassung bzw. Unterwerfung zu erzeugen [so beschrieben z.B. auch bei Shane Paul O’Doherty, The Volunteer, (deutsch) Borchen 2013, S. 325]. Ein Mittel gegen diese Diskriminierung könnte dann sein, ihr Kennzeichen trotzig bekennend anzunehmen. Das macht dann wieder den folgend im Text geschilderten bekenntnishafte Übergang in die Musik- und Skater-Szene plausibel, wie er ebenfalls bei Wikipedia dargelegt ist .
- nämlich örtlich in Louisiana und in Florida, so noch einmal Wikipedia.
- Hier ein Beispiel für ein kommerziell entschärftes Mode-Loblied auf Baggy Jeans mit viel Kaufimpuls
- Einzelheiten bei Wikipedia. Maurerdekolleté und „Arschgeweih“ werden nicht zuletzt auch in bekanntlich meist reiferen Biker-Kreisen intensiv diskutiert.
- Beispielhaft der genannte Wikipedia-Artikel. Die Auseinandersetzung, welche modischen Erscheinungen dem guten Geschmack entsprechen oder, zusammen mit ihren Träger*innen, moralisch verwerflich seien, ist zumindest Jahrtausende alt [hier ein Beispiel aus dem antiken Rom, ausführlicher bei Wikipedia] und vermutlich ewig.
- Aktueller Nachtrag 14.09.2024: Nach dem „Hosengate“ in der Fußball-Bundesliga von Victor Boniface bei Bayer Leverkusen – einer Art Jubeltanz mit einer hinten auf Halbmast gesetzten Hose – wissen wir von ihm nun auch: „Das ist ein Tiktok-Trend in Nigeria.“