Woher kommen Fabeln? – Warum es Fabeln aus Asien auch in Deutschland gibt

Asien ist reich an traditionellen Fabeln. Erstaunlich: Einige davon gibt es gleich oder ganz ähnlich schon lange auch in Deutschland. Wie kann das sein? Was z.B. hatte vor ca. 400 Jahren ein deutscher Landsknecht mit einem buddhistischen Mönch aus Südostasien gemeinsam? Denn beide haben tatsächlich unabhängig voneinander dieselbe Geschichte geschrieben. Woher kommen die Fabeln? Das führt uns dann noch weiter in die Vergangenheit und zu den alten Kulturen in Indien, Griechenland, Ägypten und Persien.
Aber der Reihe nach. Erst die Fabeln, dann die Vergleiche zwischen ihren asiatischen und den deutschen Varianten, und dann gehen wir den möglichen Ursprüngen und Verbreitungswegen nach.

Fabeln aus Laos, Südostasien

Laos liegt in Südostasien am Fluss Mekong zwischen Vietnam und Thailand. In seiner alten Königsstadt Luang Prabang haben wir den Xien Tong Tempel besucht. Er wurde 1620 erbaut und ist der einzige Tempel in der Region, der nie zerstört und geplündert wurde.1 An seinen Wänden sind in Form von mosaikartigen Bildern mehrere Legenden und Fabeln festgehalten. Sie sind dort noch heute bekannt, und der kundige Herr Bounma Sithana hat sie uns vor Ort ungefähr so erzählt:2

Die Fabel vom Tiger und dem Einsiedler

Tiger und Einsiedler. Fresko am Xien Tong Tempel in Luang Prabang

Interpretation und Varianten

Dem Affen und der Ziege sind also die Macht und die Furcht vor ihr wichtiger als Moral. Der Hase ist ebenfalls schwach, aber auch schlau, und er findet einen gerechteren Weg, obwohl er persönlich nicht betroffen ist. Und wie so oft in allen Fabeln der Welt, siegt List gegen Macht.

Wenn du das Bild auf der Tempelwand genau ansiehst, kannst du sehen, dass dort noch andere Figuren eine Rolle spielen. Sie entsprechen der altüberlieferten, wohl klassischeren Variante der Fabel. Diese wurde unter dem Titel „Der Tiger und die Kobra“ von Martina Sylvia Khamphasith in eine moderne Lesart und Fassung gebracht.5 Als Schiedsrichter befragt werden dort zwei Baumgeister (Thewada), ein Fuchs, eine Eule, ein Affe und schließlich der Hase (was alles mit dem Mosaikbild am Tempel genauestens übereinstimmt).

Auch in dieser Variante erkennen alle Befragten für sich, dass eigentlich der Einsiedler im Recht wäre, aber bis auf den Hasen lassen sich alle von eher eigennützigen, zweckbestimmten Überlegungen leiten. Diese sind, je nach Interessenlage, verschieden. So denken die Baumgeister: Wenn der Tiger stirbt, haben die Menschen keine Angst mehr und fällen bald den ganzen Wald, so dass wir unsere Heimat verlieren. Deswegen geben sie dem Tiger Recht. Der Fuchs überlegt: Der Tiger ist für mich nützlich, oft lässt er von seiner Beute für mich etwas übrig. Daher stimmt auch er für den Tiger. Die Eule befürchtet: Wenn der Tiger überlebt, wird er mich fressen. Aber der Affe sieht voraus: Wenn ich gegen den Tiger aussage, würde der Tiger oder seine Nachkommen sich an mir und meiner Familie rächen. Es steht also vor der Einlassung des Hasen 3:1 für den Tiger. Da jeder Befragte nicht allgemeinen Grundsätzen folgt, sondern seinen individuellen Interessen, ist das Abstimmungs-Resultat eindeutig – und eindeutig falsch. Auch hier findet der eigentlich schwache Hase den Ausweg, der dem Hergang und der Gerechtigkeit entspricht.

Die Fabel vom Hirsch und der Schildkröte

Herr Bounma erzählte uns diese Fabel vor der Tempelmauer ungefähr so:

Hirsch und Schildkröte. Xien Tong Tempel in Luang Prabang

Interpretation

Der Hirsch6 handelt nicht aus Eigeninteresse; er ist gerettet, das Schicksal der Schildkröte könnte ihm egal sein. Das gilt umgekehrt natürlich vorher auch für die Schildkröte: Sie müsste ja nicht helfen, zumal sie von allen offensichtlich die schwächste ist. Beide ergänzen sich in ihren Motiven. Die sind nicht in Nützlichkeit, sondern in moralischen Werten begründet: Man hilft, wo man kann; Hilfe gegen Hilfe; ich helfe dir aus der Gefahr, in die du durch deine Hilfe geraten bist. Schon das erste Prinzip, zumindest das zweite, war auch in der europäisch-humanistischen Tradition für viele Anthropologen und Philosophen lange Zeit das entscheidende Merkmal, das den Menschen vom Tier unterscheidet.7

Die europäische Version der Fabel: Der Löwe und die Maus

Auch zu dieser Fabel gibt es in vielen Büchern eine Variante oder Entsprechung, aber aus Europa! Diese Fabel ist in Deutschland in vielen Büchern betitelt mit „Der Löwe und die Maus“. Als solche wurde sie gar aus der griechischen Antike, von Äsop, bis heute überliefert.

Hier läuft es ein wenig anders:

Die „Moral“ bzw. die Lehre geht dort also eher in die Richtung: Wenn man den Geringsten/Schwächsten verschont, kann sich das ganz eventuell doch mal für einen selbst als nützlich erweisen. Beim mächtigen Löwen ist also die Moral eher auf Nützlichkeit ausgerichtet. Aber bei der schwachen Maus weniger: Sie hätte sich ja nach ihrer „Begnadigung“ nicht mehr blicken lassen müssen. Diese Variante bildet eine Klammer auch zu unserer ersten Fabel: Während der mächtige Tiger auf seinem Recht des Stärkeren besteht, setzt der mächtige Löwe auf die Gegenseitigkeit und deren Nützlichkeit, auch wenn diese höchst unwahrscheinlich ist.

Die dritte Version der Fabel

Aber es gibt noch eine Version der Geschichte, wieder aus einem anderen Kulturkreis, nämlich aus dem alten Ägypten. Auch hier sind Löwe und Maus die Hauptfiguren, aber inhaltlich ist die Geschichte näher an der asiatischen Fabel vom Hirsch und der Schildkröte. Diese Fabel hat eine längere „Vorgeschichte“ und geht ungefähr so:9

Hier glaubt der Löwe nicht so recht an die Nützlichkeit, auch nicht an die Gegenseitigkeit des Handelns. Das muss er am Ende als Überheblichkeit erkennen.

Maus und Löwe. Äsop- Illustration aus dem 19. Jh.

Zwischenbilanz

Die erzählten Inhalte samt „Lehre“ sind auf drei Kontinenten ähnlich, bei zweien sogar die Tierfiguren.10 Ist das Zufall? Gibt es gar einen Austausch oder gibt es gemeinsame Wurzeln? Es geht noch deutlicher: Zumindest eine Fabel ist im Laotischen und im Deutschen praktisch gleich, trotz aller Entfernung und Unterschied in der kulturellen Entwicklung! Das ist dann ein guter Ausgangspunkt, um ihrer Entstehungsgeschichte in beiden Kontinenten nachzugehen. Dabei werden wir weiter unten auch wieder deren dritte, etwas abweichende Variante betrachten. Aber erst einmal die Fabel:

Die Fabel von der geschwätzigen Schildkröte

Diese Fabel ist in der südostasiatischen Kultur von Laos ebenfalls durch Khamphasith überliefert.11 Aber es gibt die gleiche Geschichte auch in einer deutschen Tradition. Die deutsche Überlieferung geht zurück auf einen gewissen Hans Wilhelm Kirchhof, der im 16. Jahrhundert lebte.

Unterschiede der deutschen zur laotischen Version

Der Hergang ist bei beiden gleich, und auch das Motiv für das Sprechen, nämlich Angeberei, mit kleinen Unterschieden: In den vielen deutschen Varianten und schon bei bei Kirchhof will die Schildkröte einfach angeben und Neid erwecken: Seht mal, ich fliege, bätschi. In Laos, bei Khamphasith, lässt sich die Schildkröte gar durch ihr Publikum provozieren. Die Untenstehenden fragen die Schildkröte nämlich spöttisch, ob die Vögel eigentlich sie trügen oder doch gar sie die Vögel? Das Ende ist in beiden Erdteilen dasselbe. Im Laotischen folgt noch der Verweis auf eine sprachliche Besonderheit, dass nämlich von der zerschellten Schildkröte der Schweißgeruch stamme, der dort auch bei Menschen nach der Schildkröte bezeichnet wird.

Im Deutschen gibt es bis heute mehrere Varianten. Sie unterscheiden sich in dem Anlass für den Umzug und ein wenig im Motiv der Schildkröte: zwischen Geschwätzigkeit – also den Mund nicht halten können – und angeberischer Selbstüberschätzung.12

Wurzeln und Entwicklungslinien der Fabeln

Fabeln sind kurze Geschichten von Tieren, die sprechen können und meist einen bestimmten Charakter verkörpern; sie sind einfach gehalten und transportieren eine Lehre. Oft geht es um Macht und List und Überheblichkeit. Viele Fabeln sind sehr ähnlich vor allem in dem Grundmuster, dass Tiere menschliche Schwächen vorführen, die ihnen zum Verhängnis werden, und in vielen lassen sich gerade Mächtige aufgrund ihrer eitlen Selbstsicherheit überlisten, oder es werden einfach Überheblichkeit und Selbstgerechtigkeit vorgeführt. Fabeln sind in allen Zeiten und, wie wir jetzt feststellen, überall auf der Welt beliebt gewesen und bis heute v.a. in Kinderbuch-Sammlungen und im Internet vertreten.

Herkunft der Fabel von der geschwätzigen Schildkröte

Wie ist diese Fabel nach Deutschland und nach Laos gekommen? Hat hier jemand von jemandem abgeschrieben? Oder hatten beide eine gemeinsame Vorlage? Die Wege der Überlieferungen sind lang und verschlungen, aber sie lassen sich im Prinzip rückverfolgen.

Im 16. Jahrhundert: „Tausend und eine Nacht“ auf Laotisch und der deutsche Landsknecht

Scheherazade aus Tausend und einer Nacht, romantische Illustration aus dem 19. Jh.

Die Vorlage für die modernisierte Version von Khamphasith stammt, wie auch die von anderen Fabeln in ihrer Sammlung, aus den „Nang Tantai“-Geschichten, einer Art laotischer „Tausend und eine Nacht“, verfasst zu Beginn des 16. Jh. vom Vorstand eines laotischen Klosters. Nang Tantai ist in diesen Geschichten gleichsam die Scheherazade, die den König belehrt. 13 Diese Nang Tantai-Geschichten wurden zu Beginn des 16. Jh. vom Abt des Klosters Vijjula Maha Vihaladhipati, einem gewissen Herrn Sita Naga Nahuta verfasst. Das war also ungefähr zu der Zeit der Entstehung des Tempels von Luang Prabang, wo wir die Bilder zu den anderen Fabeln gefunden haben.

Inhaltsverzeichnis Kirchhof, Ausschnitt

Hans Wilhelm Kirchhof, von dem die deutsche Version überliefert ist, lebte etwas später, nämlich in der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts. Kirchhof war ein deutscher Landsknecht, Burggraf, Forstmann, barocker Dichter und Übersetzer.14 Er war als Söldner viel herumgekommen, aber sicherlich nicht in das südostasiatische Kloster, und er konnte bestimmt auch kein Laotisch.

Der buddhistische Mönch aus Laos und der Landsknecht aus Deutschland lebten (fast?) zur gleichen Zeit, aber sie wussten nichts voneinander. Trotzdem schrieben sie beide die gleiche Geschichte auf. Vermutlich also hatten sie indirekt und unwissentlich eine gemeinsame Quelle. Diese muss noch weiter zurück liegen.

Eine indo-iranische Fabelsammlung als gemeinsame Wurzel?

Die asiatische Quelle lässt sich gut rekonstruieren. Der Mönch Sita Naga Nahuta hatte seine Geschichten nämlich auch nicht selbst erfunden, sondern aus einer Version des Panchatantra ins Laotische übertragen. Diese Version stammt aus dem 7. Jahrhundert, verfasst in einer der indischen Sprachen.15 Jenes Panchatantra wiederum entstand in der heute bekannten Form wohl im 3. bis 6. Jh. n.Chr., bestehend aus 5 Büchern mit jeweiligen, fabel-haften Rahmenhandlungen. Unsere Fabel von der Schildkröte findet sich dort wieder, nämlich im I. Buch, Nr. 17.1.

Fabeln zur Erziehung der Prinzen in Persien
Fabeln dienten vor langer Zeit der Erziehung des persischen Prinzen-Nachwuchses [Glitter, Pixaby]

Das Panchatantra war ursprünglich in indischem Sanskrit verfasst und wurde durch die Jahrhunderte in verschiedenen Versionen und Umwegen populär. Vor allem wurde es wohl schon ca. 300 n. Chr. ins Pahlevi (Mittelpersische) übertragen und ca. 570 n. Chr. ins Altsyrische und gelangte so ins Arabische. Daher gilt die indische Panchatantra auch als Grundlage der persischen sowie der arabischen Fabel. Von diesen gab es dann weitere Übertragungen ins Türkische und ins Lateinische, 1644 auch ins Französische und von da gar ins Deutsche. Auf diesem Wege ist auch über Kirchhof die bis heute lebendige deutsche Version zu uns gekommen. Der laotische Mönch und der deutsche Landsknecht waren indirekt und unwissentlich über eine indische Textsammlung auf Sanskrit miteinander verbunden, obwohl sie beide Sanskrit gar nicht verstehen konnten.

Bei der Vielfalt der Überlieferungen und Übertragungen in verschiedene Kulturen und Sprachen ist es übrigens kein Wunder, dass diese Fabel heutzutage in Internet und TV auch als „Märchen aus Äthiopien“16 vorgestellt wird, als deutsche oder auch schweizerische Geschichte17 oder auch, näher dran, als „Indische Volkserzählung“ mit Erwähnung einer buddhistische Rahmengeschichte.18

Die Traditionslinie der griechischen Antike

Haben wir jetzt mit dem indischen Panchatantra aus den frühen Jahrhunderten nach Christi den Urquell der Fabeln erreicht? Keineswegs!

Das Fabel-Motiv von der Schildkröte, die fliegen will und sich dabei zu Tode stürzt, gibt es schon in einer ganz anderen, noch älteren Traditionslinie, nämlich der griechischen (Vor-)Klassik, also aus vorchristlicher Zeit und aus Europa. Dort wird sie einem gewissen Äsop zugeschrieben. Der soll zwischen 620 und 564 vor Chr. auf Samos gelebt haben, also noch grob 900 Jahre vor der vermutlichen Entstehung des Panchatantra!

Äsop gilt auch als Quelle für die Fabel von dem Löwen und der Maus als Variante der asiatischen Fabel von Hirsch und Schildkröte.

Haben also die alten Inder gar von den alten Griechen abgeschrieben? Das wäre für ernsthafte Sprachhistoriker (Philologen) dann doch zu einfach. Gerade wenn bei einer Geschichte oder einem Lied eine Vielfalt von deutlich unterschiedlichen Varianten vorhanden sind, ist das für sie ein untrügliches, zumindest sehr starkes Indiz dafür, dass so eine Erzählung schon lange vor Entstehung ihrer Varianten vorhanden war.

Äsops Variante von der fliegenden Schildkröte

Bei Äsop geht die die Fabel von der geschwätzigen Schildkröte in Motiv, Verlauf und „Moral“ allerdings auch ein wenig anders:

Der Tadel der Geschwätzigkeit bzw. Angeberei ist der Äsop’schen Fassung jedenfalls nicht zu entnehmen, stattdessen die in der Antike verpönte Maßlosigkeit in Wünschen und Zielen.19

Auch von dieser äsopischen Fassung der Fabel gibt es heutzutage wiederum verschiedene Varianten in Büchern und im Internet. Der betont pädagogische Schwerpunkt ändert sich dort analog zur Entwicklung der Erziehungsgrundsätze in den letzten Generationen. Neuzeitlichere Varianten gehen so: (1) Der Adler straft kommentarlos autoritär den vermessenen Wunsch (siehe oben). (2) Sein Erziehungsstil ist „permissiv“ (zulassend), aber er ist zunehmend genervt, erst von dem törichten Wunsch (dem er noch nachgibt), dann von der penetrant andauernden Überheblichkeit während des Fluges („…ich kann fliegen, fliegen!…“) und lässt schließlich los. (3) Die „antiautoritäre“ Variante: Die Schildkröte verlangt, dass der Adler sie in der Luft loslässt, damit sie selber ausprobieren kann, ob sie fliegen kann. Der Adler sagt fürsorglich „nein“, aber die Schildkröte schreit ihn an, „Tu es!“, so dass er sie aus Schreck fallen lässt.20 Das Resultat ist immer dasselbe.

Xien Tong Tempel in Luang Prabang

Äsop und das Abendland

Für unser Thema interessanter ist auch hier die Herkunft der Äsop’schen Fabel. Woher kommt das zumindest sehr ähnliche Motiv? Gibt es auch hier, in der griechischen (Vor-)Klassik, eine gemeinsame Grundlage mit der anderen Schildkröten-Fabel? Bei der Antwort auf diese Frage begeben wir uns nun, bedingt durch Mängel der Quellenlage, teilweise in das Reich der Vermutungen.

Andererseits hat diese Frage historisch eine große, stark ideologisch geladene Bedeutung. Im europäischen Selbstverständnis gilt das antike Griechenland als Wiege der europäischen Kultur: der Philosophie, der Kunst, der Wissenschaften, der „abendländischen Werte“. Demnach ist das antike Griechenland so etwas wie der Urknall des Abendlands. Und entsprechend wird Äsop gern als Urvater der (europäischen) Fabel gesehen.

Leben und Herkunft Äsops

Aber dieses Narrativ von Äsop hat so seine Tücken; denn kaum etwas aus seiner Biografie ist gewiss. Äsop21 war eher eine legendäre als eine historische Persönlichkeit. Wahrscheinlich lebte er im 6. Jh. vor Chr.,22 aber einige wenige bestreiten gar, dass es ihn real überhaupt gab.

Um den (vermeintlichen) Dichter vieler Fabeln und Gleichnisse ranken sich selbst zahllose Legenden, die zum Teil schon im 5. Jh. v Chr. existierten, als die ersten schriftlichen Überlieferungen über seine Person einsetzten. Die früheste Erwähnung stammt von Herodot († 424 vor Chr.). Demnach war Äsop ein „missgestalteter“ Sklave auf der Insel Samos. Samos stand damals unter der Hegemonie des persischen Reiches, regiert von örtlichen „Tyrannen“. Erst 479 v.Chr. zwang Athen die blühend reiche Insel Samos durch die Schlacht von Mykale in seinen Attischen Seebund. Ein Aufstand der Inselbewohner gegen die athenische Herrschaft wurde dann 440 v. Chr. im Vorfeld des Peloponnesischen Krieges niedergeschlagen.23 So geriet Samos ca. 100 Jahre nach dem vermutlichen Tod von Äsop unter „griechische“ Herrschaft.

Vielleicht stammte Äsop aus Thrakien,24 nordöstlich des damaligen Griechenlands, vielleicht aber auch aus Phrygien.25 Jedenfalls war er eher nicht-griechischer Herkunft. Auch daher ist es problematisch, Äsop als Griechen oder gar griechisches Urgestein zu bezeichnen. Angeblich wurde der Sklave Äsop durch seine Fabeln auf Samos so beliebt, dass er freigelassen wurde.

Auch sein Tod ist legendenumwoben: Demnach bekam er vom persischen König Kroisos „Geschenke“ für die Orakelstadt Delphi mit. Solche „Geschenke“ bzw. Spenden waren für die Herrscher Griechenlands und Persiens das übliche Vorgehen, sich das Orakel von Delphi gewogen zu halten und von ihm Zukunftsvorhersagen zu bekommen.26 Äsop aber soll die Spenden-Empfänger – also wohl die delphischen Orakel-Betreiber und/oder die Stadt – dieser Gaben nicht für würdig befunden haben, aus welchem Grund auch immer. Hatte er vielleicht, wie andere kluge Köpfe seiner Zeit auch, gar Zweifel an der Redlichkeit und Unfehlbarkeit des Orakels? Jedenfalls wurde er deswegen angeblich in Delphi zum Tode verurteilt und hingerichtet.27

Äsop als Urvater der Fabel

Äsop galt lange Zeit gleichsam als Begründer der Literaturgattung der Fabel, also der lehrhaften Kurz-Geschichten von Tieren. Die ihm zugeschriebenen Fabeln gab es lange nur in mündlicher Überlieferung. Sie sollen erstmals um 300 v. Chr. von Demetrios von Phaleron in eine schriftliche Fassung gebracht worden sein, also über 200 Jahre nach seinem vermutlichen Tod, als er und sein Leben schon eine Legende waren. Diese schriftliche „Urfassung“ ging aber im Mittelalter wieder verloren.28 Schon in dieser „Urfassung“ und später durch die Jahrhunderte wurden Äsop immer wieder Fabeln zugeschrieben, die nachweislich früher entstanden waren oder einfach weil ein Ursprung oder Urheber einer Volkserzählung nicht bekannt war. Für diese Rolle Äsops als Fabel-Sammelbecken spricht auch die Tatsache, dass die „Äsop’schen“ Fabeln sich nicht nur vom Sprachniveau her stark unterscheiden, sondern dass auch ihre „Lehren“ sich inhaltlich teilweise widersprechen. 29

Frühere Wurzeln der Fabel

Wie auch immer der Wahrheitsgehalt seiner Biografie und der Stand der Überlieferung seiner Fabeln zu bewerten ist: Zumindest der Ruf von Äsop als Urvater der Fabeln ist übertrieben. Einige der Äsop’schen Fabeln sind nachweislich westasiatischen Ursprungs, andere haben weiter östlich liegende Entsprechungen. Tierfabeln nach äsopischer Art gab es schon im 3. Jahrtausend vor Chr. in den frühen Hochkulturen in Mesopotamien.30

Klosterschule in Luang Prabang

Die äsopische Traditionslinie und die indisch-asiatische31 haben etwa ein Dutzend gemeinsame Erzählungen, auch wenn sie sich in Einzelheiten stark unterscheiden. Ob hier letztlich griechische bzw. kleinasiatische Fabeln aus indischen Quellen stammen oder umgekehrt, muss umstritten bleiben. Bei einem „Vorlauf“ von gut 3.000 Jahren seit den mesopotamischen Kulturen scheint es eher wahrscheinlich, dass diese Erzählkulturen sich gegenseitig auch mit einzelnen Geschichten durchdrungen haben, bevor sie dann ihren „europäischen“ und „asiatischen“ Entwicklungsverlauf nahmen.

Die Fabel vom Löwen und der Maus als Beispiel

Wir haben oben die äsopische Variante zur Fabel von Hirsch und Schildkröte betrachtet, nämlich die Fabel vom Löwen und der Maus. Dazu gibt es, wie oben (unter 1.2.3) dargestellt, auch eine ägyptische Version. Diese stammt aus einer altägyptischen Sammlung, Die Heimkehr der Göttin. Niedergeschrieben wurde sie auf Papyrus in mehreren Fassungen aus dem 2. Jahrhundert n.Chr. Es gibt von dieser Sammlung auch eine spätere griechische Übersetzung aus dem 3. Jahrhundert nach Chr. Beide Varianten wurden also mehrere Jahrhunderte nach der vermutlichen Lebenszeit des Äsop schriftlich gefasst. Aber sprachliche Elemente, technische Details, etwa der Löwen-Jagd, sowie ein Bruchstück der Textsammlung auf einer Scherbe lassen vermuten, dass die Originaltexte dieser Erzählungs-Sammlung bis in eine Zeit des Ägyptischen Reichs zwischen ca. 1.000 und 1.500 vor Chr. zurückreichen. Das stärkt noch einmal die Vermutung, dass viele äsopische Fabeln, und gerade die hier betrachteten und verglichenen, eher aus den ägyptischen und sumerischen Traditionen stammen und von dort ihre Wege ins antike Griechenland und nach Indien gefunden haben.32

Fazit

Die Gemeinsamkeit der asiatischen und europäischen Fabeln haben wir anfangs nur exemplarisch an drei Beispielen beleuchtet und dann den Gesichtskreis erweitert. Das Ergebnis: Auch bei dieser Literaturgattung reichen unsere kulturellen Wurzeln über den deutschen und europäischen Raum hinaus und sind verbunden mit afrikanischen und asiatischen Traditionen.

Das ist nur für Nationalisten enttäuschend. Andere freuen sich, dass die Menschheit über Kultur- und Sprachschranken hinweg durch ein reichhaltiges gemeinsames Wurzelwerk verbunden ist, das gerade in den erzieherischen Fabel-Gleichnissen gleichartige Wertvorstellungen transportiert.

Zum Schluss

Vermutlich dienten zumindest die Fabeln und Gleichnisse indischen bzw. dann persischen Ursprungs zunächst der Erziehung des Königs- und Fürsten-Nachwuchses bei Hofe, zur Unterweisung in kluger Verwaltung und weltlicher Weisheit.33 Ein weiteres, sehr einleuchtendes Beispiel für diese Funktion befindet sich ebenfalls am eingangs erwähnten Xien Tong Tempel in Luang Prabang. Thematisch schließt sich hier der Kreis zu unserer ersten Fabel.34 Das Bild und die Erzählung dazu sind ebenfalls noch heute gegenwärtig. In der Fassung von von Herrn Bounma geht diese Fabel ungefähr so:

Der König und die Kobra

Der König und die Kobra, Xien Tong Tempel in Luang Prabang

Der Appell an Könige und Fürsten, bei der Suche nach Ursachen und Schuldigen nicht vorschnell und dem ersten Anschein nach zu urteilen und zu verurteilen, ist offensichtlich. Er steht aber, gerade in der Demokratie, auch allen „normalen“ Menschen gut an.

Anmerkungen und Erläuterungen

Anlass für den Artikel: eine Reise nach Luang Prabang und die Fabel-Erzählungen dort vor Ort

Buchempfehlung: Martina Sylvia Khamphasith, Warum Krokodile keine Affenherzen fressen. Fabeln und Tiergeschichten aus Laos, Hamburger Haiku Verlag 2007

  1. Der Legende nach soll dort der Warlord, der im Zuge der chinesischen Bürgerkriege die Stadt überfiel, ausgerechnet in diesem Tempel als Jugendlicher erzogen worden sein. Respekt vor seinen Lehrern oder Furcht vor dem Karma? Jedenfalls wagte er nicht, diesen Tempel zu plündern.
  2. Der Verfasser hat diese Erzählungen 2019 nach der Reise aus dem Kopf aufgeschrieben; etwaige Fehler und Ungenauigkeiten gehen also selbstverständlich auf sein Konto.
  3. Der Tiger, unbestrittener König der Wälder, gilt in den dortigen Erzählungen als Sinnbild der Macht, ähnlich wie der Löwe in den traditionellen europäischen Fabeln.
  4. Die Figur des Einsiedlers ist häufig in der buddhistischen Sagenwelt: Er ist mönchisch fromm und erfahren im Umgang mit Geistern und Naturkräften aller Art.
  5. zusammen mit vielen anderen Fabeln in: Martina Sylvia Khamphasith, Warum Krokodile keine Affenherzen fressen. Fabeln und Tiergeschichten aus Laos, Hamburger Haiku Verlag 2007
  6. Der Hirsch steht in der buddhistischen Tradition oft als Sinnbild der Friedfertigkeit
  7. So dichtete etwa Goethe, übrigens selbst ein Bewunderer und Verfasser von Fabeln, gültig über seine Zeit hinaus: Edel sei der Mensch, Hilfreich und gut! / Denn das allein / Unterscheidet ihn / Von allen Wesen, / Die wir kennen (Goethe, Das Göttliche)
  8. eigene Formulierung nach dem traditionellen Text, in alter Fassung wiedergegeben bei Gutenberg. Auch davon gibt es neuere, kindgerechtere Fassungen
  9. in Inhalt und Herkunft ausführlich dargestellt bei Wikipedia, Der Löwe und die Maus
  10. Mittlerweile hat dieser Fabelstoff auch Eingang in ein erfolgreiches japanisches Kinderbuch gefunden: Dort befreien fünf Mäuse trotz anfänglicher Angst eine Katze von ihrer Verstrickung – weil sie selbst wissen, wie Gefangensein ist – und machen sie damit zu ihrer beschützenden Freundin.[Chisato Tashiro, Fünf freche Mäuse bauen ein Haus, japanisch 2009, deutsch Bargteheide 3./2018]
  11. Khamphasith, Warum Krokodile keine Affenherzen essen, a.a.O.
  12. So die Schweizerische Variante, in der die Schildkröte von Haus aus geschwätzig ist. Im Herbst will sie mit ihren Freunden, den Gänsen, nach Süden ziehen. Auch dort kann sie nicht der Versuchung widerstehen, die Tiere da unten zu grüßen. Hier überlebt sie, aber ihr zerschmetterter Panzer musste aus vielen Teilen wieder zusammengesetzt werden, was man heute noch an dessen Nähten sieht. Für Kinder gibt es auch in TV und Youtube mehrere „aktuelle“ deutsche Fassungen
  13. Scheherazade ist die Erzählerin in der Märchensammlung aus „Tausend und einer Nacht“ gemäß folgender Rahmengeschichte: Der Sultan ließ seine neuen Frauen regelmäßig nach der ersten Nacht umbringen. Das gewöhnte die Scheherazade ihm ab, indem sie ihm abends ein Märchen erzählte, das sie an der spannendsten Stelle abbrach, so dass der Sultan das Ende erst in der nächsten Nacht zu hören bekam usw., wie in einer zeitgenössischen Streaming-Serie. Resultat war nach 1001 Nächten eine Dauerehe mit 3 inzwischen geborenen Kindern. Herkunft und Entstehungszeit sind auch hier umstritten. Eine erste, persische Fassung gibt es aus dem 15. Jahrhundert, einen älteren indischen Ursprung kann man vermuten. Die im Arabischen verbreiteten Märchen wurden spätestens in der europäischen Romantik des 19. Jahrhunderts auch in der deutschen Sprache populär (z.B. Sindbad der Seefahrer, Aladdin und die Wunderlampe, Ali Baba und die 40 Räuber u.v.m.) und als Teil der Weltliteratur geradezu zum Inbegriff des orientalischen Märchens und des Orients. In den verschiedenen Strömungen des Islam hingegen sind sie umstritten: die einen, orthodoxeren, halten sie für minderwertige, traditionsfremde Spätliteratur (vielleicht auch wegen ihres ursprünglich nicht immer jugendfreien Inhalts), die anderen, etwa in der sufistischen Richtung hingegen halten sie für ein wichtiges literarisches Zeugnis der orientalischen Kultur. (so z.B. Navid Kermani, Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen, München 2022)
  14. Kirchhof sammelte schwerpunktmäßig mündlich überlieferte, oft ziemlich deftige Schwänke und vielfach aus der Antike stammende Fabeln und stellte sie in Büchern zusammen.
  15. nämlich in Pali. Genaueres zur Quelle findet sich bei Khamphasith, a.a.O., S. 102. Informationen zur Überlieferung des Panchatantra finden sich bei Wikipedia
  16. so in einer Fassung auf Youtube
  17. z.B. in einem anderen Youtube-Beitrag
  18. als Teil einer TV-Serie. Die buddhistische Rahmengeschichte aus den Jataka-Erzählungen (siehe dazu den Abschnitt unten über Frühere Wurzeln) geht dort so: Der junge Buddha denkt darüber nach, wie man dem König beibringen kann, weniger zu reden. Das traurige Schicksal der geschwätzigen Schildkröte ist für den geschwätzigen König eine Lehre, die im wahrsten Sinne des Wortes vom Himmel fällt.
  19. wörtliche Wiedergabe der Fabel in der traditionalen Fassung in Gutenberg. Zur Kritik der Maßlosigkeit in der Antike siehe den Cosmiq-Artikel über Phaeton.
  20. So in der frei erzählten Fabel-Sammlung „Zitronenbande“
  21. altgriechisch Αἴσωπος / Aísōpos. Infos über sein Leben und Herkunft der Werke, auch die folgenden, bei Wikipedia
  22. vielleicht 620 bis 564 v. Chr.
  23. zum geschichtlichen Zusammenhang der Unterwerfung Samos‘ siehe die Anmerkung zum Peloponnesischen Krieg; ausführlich die Samos-Geschichte in Wikipedia.
  24. Thrakien liegt zwischen Schwarzem Meer und der nördlichen Ägäis, etwa auf dem Gebiet des heutigen Bulgariens, dem europäischen Teil der Türkei und der gleichnamigen nordöstlichen griechischen Provinz,
  25. Phrygien lag in Kleinasien, im zentralen Binnenland der heutigen Türkei, jenseits der damaligen griechischen „Kolonien“ an der kleinasiatischen Küste.
  26. Solche Orakel-Sprüche von Delphi waren allgemein anerkannt und politisch gewichtig. Auch persische Könige ließen sich dort gegen entsprechende „Geschenke“ weissagen.
  27. so jedenfalls ca. 500 Jahre später die Darstellung von Plutarch, gestorben um 125 nach Chr.
  28. so Wikipedia. Aus diesem Grund gibt es aus der Antike nur wenige bearbeitete Fassungen
  29. auch dies ausführlich dargelegt bei Wikipedia
  30. Mesopotamien lag um Euphrat und Tigris, also im Gebiet des heutigen Irak und Umgebung, nämlich dem Land der Sumerer bzw. dem Reich der Stadt Akkad (mit heute unbekannter Lage)
  31. Diese indisch-asiatische Tradition wird durch die buddhistischen Jataka-Erzählungen (=Erzählungen um die Geburtsgeschichte Buddhas herum) und das oben erwähnte hinduistische Panchatantra repräsentiert
  32. Diese Infos und viele interessante Details/ Indizien dazu im Wikipedia-Artikel Der Löwe und die Maus.
  33. Heutzutage ist die Fabel längst als Kinder- und insbesondere Schulliteratur vermarktet. Das liegt vermutlich auch an der Kürze und Einfachheit seiner copyright-freien Erzählungen, dem pädagogisch einwandfrei belehrenden Charakter, aber sicherlich auch daran, dass man in der Schule damit eindeutige Unterrichtsergebnisse und damit Benotung herstellen kann.
  34. Allerdings kann man einwenden, dass zwischen dem Tod eines selbstsüchtigen Herrschers durch einen Untertanen und dem Tod einer Untertanin aufgrund eines falschen Urteils des Herrschers ein gewisser Unterschied besteht.